f EmderBeiträge zum reformierten Protestantismus Band 2 Herausgegeben von Matthias Freudenberg, Alasdair I.C.Heron, Harm Klueting, Sigrid Lekebusch, Jan Rohls, Walter Schulz und Hans-Georg Ulrichs foedus Chronikdes Reformierten Studienhauses in Göttingen 1938 1947 Herausgegeben von Matthias Freudenberg foedus ©foedus-Verlag, Wuppertal, 1998 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Thomas Riehle der Johannes A Lasco Bibliothek Große Kirche Emden Hans-Martin Dahlmann, Rheinberg Satz: j.s. Druck und buchbinderische Verarbeitung: Breklumer Druckerei Manfred Siegel KG Printed in Germany ISBN 3-932735- Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Chronik Chronik des Reformierten Studienhauses in Göttingen 1938 - 1947 / hrsg. von Matthias Freudenberg. - Wuppertal : Foedus, 1999 (Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus ; Bd. 2) ISBN 3-932735-31-5 Inhalt Vorwort IX Geleitwort von Jochen Pitsch XIII Einführung 1Chronik des Reformierten Studienhauses in Göttingen 1938-1947 13 Wintersemester 1962/63 und Sommersemester 1963 85 Anhang 1: Denkschrift von Friedrich-Wilhelm Bleske-Viëtorundund Johann Adam Heilmann vom 22. Juni 1914 91Anhang 2 Kirchliche Nachrichten aus dem Reformierten Bund vom Mai 1921 95 Anhang 3: Johann Adam Heilmann: Das reformirte Studienhaus zu Göttingen 97 Bibliographie zum Reformierten Lehrstuhl und Studienhaus in Göttingen (Auswahl) 101 Foto: Gottfried ehr Vorwort Als Bewohner des Reformierten Studienhauses in den 80er Jahren bin ich an einem jener legendären Hausabende erstmals mit einem älteren, im ursprüng- lichen Einband schon etwas abgeschabten besonderen Buch in Berührung gekommen. Jedenfalls äußerlich verströmte es zunächst einmal den Charme eines verstaubten Bandes aus der Sparte Finanzverwaltung. Doch weit gefehlt! Tatsäch- lich handelte es sich um die Chronik des Reformierten Studienhauses, und ihr Inhalt erschien nicht nur mir hochinteressant. Die Abendlektüre soweit sie bedingt durch die z.T.schwer entzifferbare Schrift erfolgen konnte vermit- telte auf Anhieb den Eindruck, sowohl in den ernsten als auch in den nicht knapp bemessenen heiteren Passagen einem bewegenden Abschnitt des Studen- tenlebens im 20. Jahrhundert auf die Spur zu kommen. Wie unten in der Ein- führung genauer beschrieben, eröffnet die Chronik einen Einblick in das Leben und Lernen von Studierenden unterschiedlicher Fächer in einer Epoche, die durch die Wirren der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit maßgeblich be- stimmt war. Einige Jahre später, nach Transkription der Semestereintragungen und orthographischer Bearbeitung, ist es nun gelungen, den Text einer breite- ren Öffentlichkeit vorlegen zu können. Neben dem unbestreitbaren Unterhal- tungswert der vorhandenen Semestereintragungen für Kenner und Nichtken- ner des Studienhauses liegt der Wert einer solchen Veröffentlichung vermut- lich darin, an einem freilich weit über sich hinausweisenden Fallbeispiel sowohl die Selbstwahrnehmung des Studentenlebens in schwieriger Zeit als auch die Atmosphäre einer kleinen reformierten Gemeinschaft mit ihrer spezifischen Bin- nenkultur authentisch erkunden zu können. Der Zeitraum 1938- 1947 erklärt sich durch den Umstand, daß die erste Phase der Chronik eben diese zehn Jahre umfaßt. Erst 1962/63 wurde neben einem summarischen Rückblick auf die dazwischenliegenden 16 Jahre eine zeitgenös- sische Situationsbeschreibung angefügt. Nach einer weiteren langen Unterbre- chung liegen dann seit 1979 weitgehend kontinuierlich bis heute wieder A f- zeichnungen vor, die einer späteren Publikation vorbehalten bleiben können. Wegen der inneren Konsistenz dieser durch den Krieg geprägten Epoche schien es ratsam, zunächst nur die Berichte aus dem Zeitabschnitt 1938-1947, ergänzt um die Eintragung von 1962/63, zu veröffentlichen. In der Chronik, die im Format 17 x 21 cm vorliegt, sind das die Seiten 1-269.Für die Veröffentlichung waren einige redaktionelle Arbeiten notwendig: Zum einen wurde die Ortho- graphie dem heute üblichen Sprachgebrauch angeglichen und offensichtliche orthographische Irrtümer stillschweigend korrigiert. Zum anderen wurde nach längerem Überlegen auf die zumeist jeweils den Semesterberichten vorange- stellten Listen mit den Namen der Bewohner sowie auf die persönlichen Noti- zenzu den Lebensläufen verzichtet, um das Private und Persönliche nicht zu sehr gegenüber dem Einblick in die Existenz der Studienhausgemeinschaft in den Vordergrund treten zu lassen. Einzig die Namen derer, die die Semester- berichte abgefaßt haben, sollen soweit durch direkte Hinweise und durch die Schrift zu ermitteln an dieser Stelle genannt sein: Sommersemester 1938: Friedrich Voget, stud. med. Wintersemester 1938/39: Friedrich Voget, stud. med. Sommersemester 1939: Friedrich Voget, stud. med. Herbsttrimester 1939: Friedrich Voget, stud. med. 1. Trimester 1940: Friedrich Voget, stud. med. 2. Trimester 1940: Friedrich Voget, stud. med. 3. Trimester 1940: Friedrich Voget, stud. med. Trimester 1941: Thomas Berron, stud. phil.,med.,rer. pol. Sommersemester 1941: Gerhard Brandt, stud. rer. pol. Wintersemester 1941/42: Otto Klingelhöffer, stud. med. Sommersemester 1942: Otto Klingelhöffer, stud. med. Wintersemester 1942/43: Otto Hövels, stud. med. Sommersemester 1943: Gisela v. Spankeren, stud. theol. Wintersemester 1943/44: Marianne Döring, stud. med. Sommersemester 1944: Elisabeth Neuser, stud. rer. nat. Wintersemester 1945/46: unbekannt Sommersemester 1946: Elisabeth Neuser, stud. rer. nat. Wintersemester 1946/47: Ursula Schultheiss, stud. theol. Sommersemester 1947: Ursula Schultheiss, stud. theol. Daß mehrere Chronikeintragungen und die in ihnen verzeichneten Ereignis- se, besonders die diversen Festivitäten, auch Fotographien als Beigaben haben, erwies sich für die Publikation als glücklicher Umstand schließlich erhellen sie auf ihre Weise die Atmosphäre des Studienhauses. Einige dieser Fotographien sind darum abgedruckt. In einem Anhang wird schließlich neben drei Dokumenten zur Studienhaus- geschichte eine Aufstellung von Literatur zum Studienhaus und zum mit ihm aufs engste verbundenen Göttinger Lehrstuhl für Reformierte Theologie gege- ben. Für die Ermöglichung der Drucklegung danke ich besonders dem Foedus- Verlag und seinem Leiter Jörg Schmidt. Der ehemalige Inspektor und langjähri- ge Begleiter des Studienhauses, Pastor i.R.Jochen Pitsch/Göttingen, hat freund- licherweise ein Geleitwort beigesteuert, für das ihm herzlich gedankt sei. Z danken habe ich schließlich Doris Thal für das Korrekturlesen des Manuskripts und der Druckfahnen sowie Ricarda Freudenberg für technische Hilfe im Vor- feld der Publikation. X Chronik des Reformierten Studienhauses DieEdition der Chronik ist all den ehemaligen Bewohnern des Reformier- ten Studienhauses gewidmet, die sich nicht zuletzt geprägt durch die Erfah- rungen des Studierens in einer Hausgemeinschaft in ihren vielfältigen Ber - fen Gottes kräftigem Anspruch auf ihr ganzes Leben (Barmer These 2) verpflich- tet wissen. Erlangen, Epiphanias 1999 Matthias Freudenberg Vorwort XI Geleitwort Das eformierte Studienhaus in Göttingen existiert seit bald 80 Jahren. Zum Sommersemester 1921 wurde es in Anwesenheit des ektors der Universität sowie Vertretern der Theologischen Fakultät und der Stadt an seinem ersten Standort, dem früheren Gasthaus »Braunschweiger Hof«, am Waageplatz feierlich eröff- net. Es war ein wichtiges Ereignis, obwohl anfänglich nur drei Studenten unter der Obhut eines cand. theol. im Hause wohnten. Aber mit der Eröffnung des Studienhauses hatte zum ersten Mal in der Geschichte der Universität Göttin- gen reformierte Theologie einen eigenen anerkannten Platz bekommen. Der ent- scheidende Anlaß dafür war die erwartete Besetzung der neu eingerichteten Plan- stelle einer Professur für eformierte Theologie, die der Theologischen Fakul- tät zwar zugeordnet, aber nicht wirklich eingegliedert war. Ihr erster Inhaber wur- de Karl Barth, der zum Wintersemester 1921/22 seine Lehrtätigkeit in Göttin- gen aufnahm. Aus der ersten kleinen Studentengruppe wurde im Laufe der Jah- re eine immer größere Gemeinschaft von Studierenden, bis schließlich, nach- dem auch die letzten nichtstudentischen Mieter in andere Wohnungen gezogen waren, 20 Studenten im Studienhaus lebten die meisten von ihnen Theolo- gen, aber nach Möglichkeit auch immer einige Studierende anderer Fakultäten. Ich selbst bin dem Studienhaus seit dem Sommersemester 1948 verbunden zunächst als Student, dann für einige Jahre als Inspektor, danach als Mitglied des Kuratoriums und schließlich für viele Jahre als dessen Vorsitzender. Der Wandel der Zeiten ist nie spurlos an dem Studienhaus und seinen Bewoh- nern vorübergegangen. War es z.B.in den Kriegsjahren eine Notwendigkeit, um die Wirtschaftlichkeit des Hauses zu erhalten, auch Studentinnen in die Hausgemeinschaft aufzunehmen, so wurde das, nachdem das alte Haus am Waa- geplatz aufgegeben werden mußte, seit 1965 unter der neuen Adresse Obere Karspüle 30 zu einer absoluten Selbstverständlichkeit. Aber nicht allein die gesell- schaftlichen Veränderungen hinterließen ihre Spuren. Auch die politischen Ereig- nisse beeinflußten den Lebensstil des Hauses und die Arbeit, die Diskussionen und die Gespräche der Studienhäusler. Matthias Freudenberg hat sich der Aufgabe unterzogen, anhand der glückli- cherweise noch erhaltenen von den Studienhäuslern geführten Hauschronik eine lebendige Geschichte des Studienhauses während der letzten Jahre der Herr- schaft Hitlers und seiner Gefolgsleute und der unmittelbaren Nachkriegsjahre zu schreiben. Dem Leser wird es auffallen, daß in diesem Bericht nichts zu fin- den ist über die Einstellung der Studienhäusler zu den damaligen Machthabern und ihren Untaten. Kein Wort über die Verfolgung und Entrechtung der jüdi- schen Mitbürger, über den Gegensatz der Bekennenden Kirche und den Deut- schenChristen. Nichts oder doch nur wenig über den Krieg. Aber gerade die- ses Schweigen ist aussagekräftiger, als jedes Wort es hätte sein können. Denn öffentliche kritische Stellungnahme oder gerade auch das Festhalten kritischer Meinungen in einer Semesterchronik hätte selbstverständlich die Gefährdung des eigenen Lebens und des Lebens der Freundinnen und Freunde bedeutet. Matthias Freudenberg ist der Dank der »alten« Studienhäusler, aber auch der jüngeren und jungen, für seine Arbeit gewiß. Und auch der Dank der Göttin- ger reformierten Gemeinde, deren männliche Jugendarbeit durch viele Jahre hin- durch von den Studenten des Hauses verantwortet und betreut wurde und die nach Jahrzehnten, in denen das Haus mit ihr zusammen auch vom eformierten Bund, den reformierten und einigen unierten Kirchen getragen wurde, jetzt wie- der alleine die Verantwortung trägt. Göttingen, im Februar 1999 Jochen Pitsch XIV Chronik des Reformierten Studienhauses Einführung Bei der Untersuchung der Profile, die die deutschen Reformierten im Kirchen- kampf und in der ihm nachfolgenden Zeit zeigen, ist die historische Forschung in besonderer Weise auch auf die Auswertung von Einzelbiographien ange- wiesen. Hinzu tritt die Beobachtung der Merkmale und Eigenheiten, die refor- mierte Gemeinden in einzelnen Territorien sowie bestimmte Gruppen von Reformierten ausgebildet haben 1 . Zur letztgenannten Kategorie gehört die Ein- richtung von Reformierten Studienhäusern. Darum sollen zunächst einige Hin- weise zur Gründung von Reformierten Studienhäusern in Deutschland gege- ben werden. Die Gründung von Reformierten Studienhäusern in Deutschland ist untrenn- bar mit den Bemühungen des Reformierten Bundes Ende des 19. Jahrhunderts verbunden, ie Ausbildung reformierter Studenten insbesondere reformierter Theologiestudenten zu fördern und auf diese Weise einen Beitrag zur Stär- kung des reformierten Profils in den Gemeinden zu liefern. Dem Bedürfnis der deutschen Reformierten, einen verbindlichen Zusammenschluß zur gegenseiti- gen Stärkung der Gemeinden und zur Profilierung der eigenen Identität her- zustellen, wurde bereits mit der Gründung des Reformierten Bundes im Zwingli-Gedenkjahr 1884 Rechnung getragen 2 . Vom 19.-21.August tagte in Marburg eine Konferenz reformierter Prediger, Ältester und Gemeindeglieder, die mit der »Stiftung des Reformierten Bundes« und der Abfassung von Statu- - ten zu Ende ging. In § 2 der Statuten wird auf die Aufgabe des Bundes hinge- wiesen, die Güter der reformierten Kirchen in Deutschland in der Lehre zu wah- ren und zu pflegen, wozu im weiteren Sinn natürlich auch die Ausbildung refor- mierter Theologiestudenten gehört. Ein Jahr nach der Gründung des Refor- mierten Bundes wurde deren erste Hauptversammlung für den 25.-27.August 1885 in Elberfeld einberufen. Neben Fragen der Gottesdienstordnung und der diakonischen Arbeit unter den Reformierten stand die Sorge um die Ausbil- dung der reformierten Theologen im Zentrum der Beratungen. Weitreichende Pläne, eigene Fakultäten zu errichten, waren aufgrund der politischen und kir- chenpolitischen Umstände nicht zu realisieren. Nur Erlangen besaß einen Lehr- 1 Vgl. Günther v. Norden, Reformierte Profile im Kirchenkampf. In: Profile des refor- mierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten. Hg. v. Matthias Freudenberg. Wuppertal 1999 (Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus, Bd. 1), S. 71-86.Im gleichen Band findet sich mein Beitrag: Leben und Lernen. Reformiertes Studentenleben 1938-1947 im Spiegel der Chronik des Reformierten Studienhauses Göttingen, S. 141-159. 2 Vgl. J.F.Gerhard Goeters, Vorgeschichte, Entstehung und erstes Halbjahrhundert des Reformierten Bundes. In: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Ge- genwart. Hg. v. Joachim Guhrt. Bad Bentheim 1984, S. 12-37; Ulrich Weiß, 100 Jahre Refor- stuhlfür Reformierte Theologie, allerdings extra facultatem und ohne Promo- tionsrecht. Die Bemühungen, eine Professur in Göttingen zu errichten, blie- ben zu jener Zeit erfolglos 3 . Im Zuge der Beratungen über die anzustrebende Vertretung der reformierten Theologie über Erlangen hinaus an weiteren Universitäten wurde auch die Mög- lichkeit und Notwendigkeit erörtert, in den Universitätsstädten reformierte Se- minare im Rahmen von Studienhäusern bzw. Studentenkonvikten zu begrün- den. Man versprach sich von solchen Einrichtungen offenbar einen Beitrag zur Förderung des Zusammenschlusses der deutschen Reformierten. Ferner sah man in solchen Studienhäusern die Möglichkeit, gleichsam als Provisorium und im Vorgriff auf zu errichtende Professuren eigene Kurse zu Themen der reformierten Theologie, Kirchengeschichte und des Gemeindelebens zu veranstalten, um das Studium an den zumeist lutherisch geprägten Fakultäten zu ergänzen. Letzt- lich stehen die in der Folgezeit errichteten Reformierten Studienhäuser und die vorhandenen oder in Aussicht genommenen reformierten Professuren in der Tra- dition er bis 1822 aufgelösten reformierten Universitäten (Heidelberg, Frank- furt/ O. , Marburg, Duisburg) und illustren Gymnasien ( Herborn, Bremen, Burg- steinfurt, Lingen, Hamm, Hanau) 4 . Ferner gelang in den zwanziger Jahren auch die lang geplante Gründung der Theologischen Schule (1928) sowie des Pre- digerseminars in Elberfeld ( 1929) , wobei letztgenanntes schon seit 1904 in einem Sammelvikariat seinen Vorläufer hatte. Diente das Predigerseminar der unmittel- baren Vorbereitung auf den Pfarrberuf, so verstand sich die Elberfelder Schu- le als Ergänzung im Studium zum Erwerb der fehlenden Sprachkenntnisse, der Bibelkenntnis und der Kenntnis des Heidelberger Katechismus. Schließlich wur- de 1935 auf der Siegener Synode die Gründung der Theologischen Hochschu- le in Elberfeld beschlossen. Der Plan für ihre Errichtung wurde neben dem Wunsch nach einer fundierten Theologenausbildung vor allem mit den anti- kirchlichen Eingriffen und Repressalien an den verschiedenen theologischen Fakultäten begründet 5 . 2 Chronik des Reformierten Studienhauses mierter Bund. Zielsetzung, Gründung und Weg. In: RKZ 126 (1985), S. 149-153.179-182. 3 Zu den Anstrengungen, in Göttingen die Ausbildung reformierter Theologen durch eine Professur bzw. Dozenten sicherzustellen und so auch dem beklagten Mangel am wissen- schaftlichen Profil der reformierten Theologie abzuhelfen, vgl. mein Beitrag: Die Errichtung der Professur für Reformierte Theologie an der Georg August-Universität Göttingen. In: JGNKG Bd. 94 (1996), S. 237-257.Vom 22. Juni 1914 datiert eine Denkschrift, in der deren Verfasser Friedrich Wilhelm Bleske-Viëtor und Johann A am Heilmann die Errich- tung einer Professur für Reformierte Theologie bzw. von Dozentenstellen fordern (Plessear- chiv chiv Bovenden); Abdruck im Anhang, Text Nr. 1. 4 Ebd.,S. 241f. 5 Vgl. Helmut Aschermann/Wolfgang Schneider (Hg.),Studium im Auftrag der Kirche. Die Anfänge der Kirchlichen Hochschule Wuppertal 1935 bis 1945. Köln 1985 (SVRKG 83); 83); Sigrid Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche. Köln 1994 (SVRK 113), S. 222-233. Vorreiterbei der Errichtung von Studienhäusern war das Reformierte Con- vict in Halle . Der Domprediger Gerhard Goebel begann dort 1889 mit theo- logischen Kursen. Ein Jahr später wurde 1890 mit Unterstützung des Refor- mierten Bundes in einem angemieteten Haus das Convict eröffnet, an dem so- dann alle drei Domprediger theologische Übungen anboten. Seit 1900 konn- te durch die Stiftung eines Hallenser Gemeindegliedes sogar ein hauptamtli- cher Inspektor angestellt werden, was ab 1902 in ie Tat umgesetzt wurde ein gerade für die Gegenwart instruktives Beispiel für die Requirierung von Fi- nanzmitteln (Sponsoring) im Bereich der Kirche. Schließlich konnte das Con- vict mit zwölf Studenten in der Kleinen Klausstraße 12 sein eigenes Haus bezie- hen. Es besteht bis heute und bietet Platz für bis zu 30 Studierende 6 . Ebenfalls 1889 hat es auch in Berlin einen Versuch gegeben, ein Reformiertes Studien- haus zu begründen. Allerdings ist dieses Unternehmen über die Veranstaltung von Kursen nie hinausgelangt und bald wieder eingegangen. Für Erlangen ist im Calvin- Jubiläumsjahr 1909 innerhalb des Reformierten Bundes der Plan eines Studienhauses erörtert worden. Doch erst 1920 wurde das auf privater Basis beruhende »Calvinhaus« zunächst mit vier Studenten im Mietshaus des refor- mierten Ordinarius Ernst Friedrich Karl Müller eröffnet und hatte zunächst bis zu dessen Tod 1935 Bestand. Nach langer Unterbrechung wurde 1967 erneut ein Theologenkonvikt der Ev.-ref.Kirche in Bayern hinter der reformierten Hu- genottenkirche im ehemaligen Pfarrhaus mit 11 Plätzen eingerichtet 7 . In engem Zusammenhang mit den Bemühungen, eine reformierte Professur zu errichten, stand die Initiative der Ev.-ref.Gemeinde Göttingen und ihres Pfar- rers Johann Adam Heilmann, in Göttingen ein Reformiertes Studienhaus zu eröff- nen 8 . In gegenseitiger Ergänzung sollten Professur und Studienhaus einen Bei- Einführung 3 6 Vgl. F.D.Plasan, Das Reformierte Convict in Halle/Saale.In: RKZ 133 (1992), S. 259. Ich danke Hans-Georg Ulrichs für den Hinweis, daß die Konviktannalen des Reformier- ten Convicts Halle eine in vielen Zügen ähnliche Diktion im Blick auf das Erleben der eige- nen Zeit aufweist wie die Göttinger Chronik; vgl. Hans-Georg Ulrichs, Heinz Otten. Ein vergessenes Schicksal aus dem reformierten Kirchenkampf. Bovenden 1994. 7 Vgl. Karl Eduard Haas, Die Evangelisch-Reformierte Kirche in Bayern. Ihr Wesen und ihre Geschichte. 2. Aufl. Neustadt/Aisch 1982, S. 71-76.150;Ders.,Der Lehrstuhl für refor- mierte Theologie zu Erlangen. 2. Aufl. Erlangen 1987, S. 90-94. 8 Vgl. Matthias Freudenberg, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinander- setzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttin- ger Lehrtätigkeit. Neukirchen-Vluyn 1997 (NTDH 8), S. 17-86; Ders.,Die Errichtung der Professur für Reformierte Theologie an der Georg August-Universität Göttingen. In: JGNKG Bd. 94 (1996), S. 237-257; Ders.,»Auf gut reformiertem Boden«.Vor 75 Jahren hielt Karl Barth seine erste Vorlesung. In: RKZ 137 (1996), S. 540-542; J.F.Gerhard Goe- ters, Reformierter Lehrstuhl und Studienhaus in Göttingen. In: Evangelisch-reformierte Kir- che in Nor westdeutschland. Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Elwin Lom- berg u.a.Weener 1982, S. 268-278; Ders.,Vorgeschichte, Entstehung und erstes Halbjahr- hundert des Reformierten Bundes. In: 100 Jahre Reformierter Bund (wie Anm. 2), S. 12- 37; Karl Eduard Haas, Der Bund evangelisch-reformierter Kirchen Deutschlands. Erlangen 1982, S. 34-36.52f.111-113;Johann A. Heilmann, Das reformirte Studienhaus zu Göttin- tragzur besseren Ausbildung der reformierten Theologen leisten. Es ist bemer- kenswert, daß die Göttinger Fakultät 1918 auf die Gründung eines Studienhau- ses drängte, um so die neue Professur noch fester in Göttingen zu verankern. Der wahre Grund für diese Befürwortung lag jedoch eher darin, die in Aussicht genommenen reformierten Dozenturen auf Distanz zur Fakultät halten zu kön- nen 9 . Nur so ist etwa die Haltung des Systematikers Carl Stange zu verstehen, die Errichtung einer Professur kategorisch aus konfessionellen Gründen abzuleh- nen, die Gründung eines Studienhauses hingegen vehement zu befürworten 10 . Im Juni 1920 konnte Heilmann das ehemalige Gasthaus »Braunschweiger Hof« am am Waageplatz Nr. 3 zum Preis von RM 80.000,-erwerben übrigens in aus- gesprochener Anlehnung an August Hermann Francke, der einst in Halle ein Wirtshaus für seine Anstalten gekauft hat 11 . Eine große Hilfe für dieses Projekt bedeutete eine Spende von 1000,- holländischen Gulden, die von den Gerefor- meerden Kerken der Niederlande zur Verfügung gestellt wurden. Für die Ausstattung der Räume mit Lazarettmöbeln für zunächst drei (Sommerseme- ster ster 1921), dann acht ( Wintersemester 1921/22), später zwölf und ab 1928 vorübergehend sogar zwanzig Studenten konnten amerikanische Spendenmit- tel mobilisiert werden. Zum Unterhalt des Hauses, das von einem Kuratorium verwaltet wurde, und zur Versorgung der Bewohner leisteten später Amsterdamer Studenten, die Reformierte Kirche von Südafrika und mehrere reformierte Ge- meinden in Deutschland einen Beitrag 12 . Am 7. Mai 1921, also ein halbes Jahr vor der Besetzung der neu gegründeten Professur mit Karl Barth, wurde das Stu- dienhaus als milde Stiftung mit zunächst drei Studenten unter dem Inspekto- rat von Heilmanns Schwiegersohn Ernst Rebermann seiner Bestimmung überge- ben 13 . Die Reformierte Kirchenzeitung berichtet: »Ein für die reformirte Kirche Hannovers, ja des ganzen Nor westdeutschlands wichtiges Ereignis bedeutet die Einweihung des reformirten Studienhauses in Göttingen, die am 7. Mai vor einer Anzahl geladener Gäste stattgefunden hat. Sie war zu gleicher Zeit eine Vorfei- er für die Errichtung der reformirten Professur an der alten Georgia-Augusta. « 14 4 Chronik des Reformierten Studienhauses gen. In: RKZ 71 (1921), S. 152f. (Abdruck im Anhang, Text Nr. 3); Ders.,Die Ausbildung der reform. Theologen. In: RKZ 73 (1923), S. 262-264; Theodor Kamlah, Der von den selbständigen ref. Gemeinden gegründete Bund Ev. Ref. Kirchen Deutschlands in der EKD in der Rückschau 1920-1967.Göttingen 1968, S. 94-102. 9 Vgl. Heilmann an Troeltsch am 22.5.1919 (Archiv der ERK Leer) und Protokoll der Sitzung des Presbyteriums der Ev.-ref.Gemeinde Göttingen am 1.10.1919 (Archiv der Ev.- ref. Gemeinde Göttingen). 10 Vgl. Heilmann an Troeltsch am 22.5.1919 (wie Anm. 9). 11 Vgl. Heilmann (wie Anm. 8), S. 152. 12 Vgl. Goeters (wie Anm. 8), S. 272f. 13 In § 2 der Ordnung des Studienhauses heißt es: »Der Zweck des Studienhauses ist, tüch- tige und brauchbare Diener der christlichen Gemeinde innerhalb der reformirten Kirche heranbilden zu helfen. Diesem Zweck dienen wissenschaftliche Übungen und tägliche An- dachten.«;vgl. Heilmann (wie Anm. 8), S. 153. 14 Kirchliche Nachrichten. In: RKZ 71 (1921), S. 130; Abdruck im Anhang, Text Nr. 2. ImStudienhaus wurden in den folgenden Jahren Übungen von Rebermann (u.a.Calvins Institutio und Exegetica) und seinem Nachfolger im Inspektorat und Barths erstem Doktoranden Joachim Beckmann (u.a.Genfer Katechismus und Zwinglis Bekenntnisse) sowie von den emeritierten Pfarrern Nießmann (Exegetica) und Heilmann (u.a.Heidelberger Katechismus) abgehalten. Auch Karl Barth hat sich mit Übungen so im Wintersemester 1921/22 mit der kursorischen Lektüre des Matthäusevangeliums, Hausabenden und gemeinsa- men Wanderungen am Leben des Studienhauses beteiligt. Allerdings zeigt sich Barth von den reformierten Studenten enttäuscht, da diese, für die die Profes- sur eigentlich errichtet wurde, ihm im Unterschied zu den lebhaft diskutierenden Lutheranern zumeist als »etwas dämlich uninteressiert und schülerhaft« erscheinen erscheinen sowie »sich durch Schwänzen und schweigendes Dabeisitzen in den Übungen« 15 15 auszeichnen. Speziell über die »reformierten Conviktualen« urteilt er, sie seien »leider meistens zu den ganz Ahnungslosen zu zählen, die nun auf einmal gewahr werden, daß das reformiert nicht so billig zu haben ist, wie man in Deutschland zu meinen gewohnt ist« 16 16 . Schon wenige Jahre später mußte indes das Studienhaus 1928 infolge finan- zieller Engpässe vorübergehend wieder aufgelöst werden. Der Göttinger refor- mierte Pfarrer und für das Studienhaus verantwortliche »Stiftsvater« Theodor Kamlah nahm noch im gleichen Jahr die Gelegenheit wahr, das Studienhaus neu zu gründen und es von dem 1928 gegründeten Bund ev.-ref.Kirchen Deutschlands bzw. den in ihm zusammengeschlossenen Gemeinden mittragen zu lassen. Eigentümerin blieb allerdings die Ev.-ref.Gemeinde Göttingen. Oh- ne Zweifel ging Kamlah damit in wirtschaftlich krisenhaften Zeiten ein hohes Risiko ein, um die Ausbildung reformierter Studenten im Rahmen eines Studien- hauses aufrechtzuerhalten. Kamlah ersteigerte die nötigen Möbel und richtete Zimmer für zwanzig Studierende sowie eine kleine Wohnung für die Hausmutter ein, die nun auch für die volle Verpflegung der Studienhausgemeinschaft zu sor- gen hatte. Im Studienhaus, das nach der Besetzung eines ordentlichen reformier- ten Lehrstuhls durch Otto Weber 1934 einen weiteren Aufschwung erfuhr, wohnten in erster Linie reformierte Studenten aus Lippe, Ostfriesland und dem Rheinland 17 . Außerdem fanden von Zeit zu Zeit auch einige lutherische Stu- denten Aufnahme 18 . Neben den Theologen zogen immer wieder auch Studieren- de anderer Fakultäten ein so vor allem Mediziner, Juristen und Naturwissen- Einführung 5 15 Barth an Thurneysen am 18.11.1921, in: Eduard Thurneysen (Hg.),Briefwechsel Karl Barth - Eduard Thurneysen, Bd. 2: 1921-1930.In: Karl Barth-Gesamtausgabe.Abt. V. 2. Aufl. Zürich 1987, S. 9. 16 Barth an Spoendlin am 21.12.1921 (Karl Barth-Archiv Basel). 17 Zu Otto Weber vgl. Vicco von Bülow, Otto Weber (1902-1966).Reformierter Theo- loge und Kirchenpolitiker. Göttingen 1999 (AKZG[B] 34). 18 Vgl. Philipp Meyer (Hg.),Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg- Lippes seit der Reformation. Bde. 1-3 Göttingen 1941/1942. schaftler.Kamlah schreibt im Rückblick zu seinen Absichten mit dem Studien- haus und der engen Verbindung zwischen diesem und der Ev.-ref.Gemeinde: »Was ich ihnen (sc.den Bewohnern) für ihre spätere Arbeit gern helfend mit- geben wollte, waren Erfahrungen aus der Gemeindearbeit, die sich bewährt hat- ten. Einmal versuchte ich, ihnen vorzuleben, wie wir so plastisch predigen müs- sen, daß nicht nur Intellektuelle, sondern auch einfache Menschen es fassen kön- nen (...).Vor allen Dingen aber sollten sie die beglückendste Erfahrung miterleben, daß wir über die immer prozentual so kleine Schar derer, die wir durch die Wortverkündigung erreichen, hinaus alle Gemeindefamilien durch helfende Liebe gewinnen können.« 19 Unmittelbar vor Einsetzen der Aufzeichnungen in der Chronik 1938 trat 1937 eine erhebliche Veränderung im Haus ein. Als die Ev.-ref.Gemeinde im Herbst 1937 infolge eines Erlasses der NS-Regierung nicht wie beabsichtigt ein von ihr gemietetes Lagerhaus erwerben durfte, sondern kurzfristig ausziehen mußte, war sie gezwungen, das Studienhaus für den Kindergarten und andere gemeindliche Zwecke in Anspruch zu nehmen. Da zu diesem Zweck das gesam- te Erdgeschoß benötigt wurde, mußte man den verbliebenen Mietparteien kün- digen. Küche, Aufenthaltsraum und Studentenzimmer wurden nach allerlei Um- bauten in den anderen Etagen etabliert. Erhebliche Anstrengungen zum äußer- lichen Erhalt des Studienhauses mußte die Ev.-ref.Gemeinde 1945 aufbringen, als es durch in der Nähe niedergegangene Bomben schwer beschädigt wurde. Nach 1945 trat insofern eine neue Entwicklung ein, als nach jahrelangen Ver- handlungen 1954 in einem Vertrag zwischen Kamlah, Wilhelm Niesel (Refor- mierter mierter Bund) und Wilhelm Neuser (Lippische Landeskirche) ein Kuratorium als Leitung des Studienhauses gegründet wurde. Diesem gehörten nun Vertre- ter des Reformierten Bundes, der Landeskirchen von Nor westdeutschland und Lippe sowie der Ev.-ref.Gemeinde Göttingen als den Trägern des Studienhau- ses an. Diese neue organisatorische und damit auch wirtschaftliche Basis ermöglichte 1955 eine umfangreiche Renovation, an der sich auch das Land Niedersachsen beteiligte. Als 1964 das Studienhaus nach den Plänen der Stadt abgebrochen werden sollte, wurde mit der Planung eines Neubaus in der Obe- ren Karspüle begonnen. Seit seiner Inbetriebnahme 1966 mit 23 Zimmern exi- stiert das Studienhaus bis heute, seit 1996 allerdings wieder in alleiniger Trä- gerschaft der Ev.-ref.Gemeinde Göttingen und mit nunmehr 16 Zimmern für Studierende. Auf dem Hintergrund dieser wechselvollen Geschichte des Studienhauses trägt ein kürzlich publizierter Artikel über das Studienhaus durch- aus zutreffend den Titel »Eine kleine unverwüstliche Orchidee« 20 20 . 6 Chronik des Reformierten Studienhauses 19 Kamlah (wie Anm. 8), S. 97f. 20 Bettina Rehbein, Eine kleine unverwüstliche Orchidee. Das reformierte Studienhaus in Göttingen. In: RKZ 139 (1998), S. 6-8. ZurChronik selbst. Zunächst einmal verdient das literarische Genus einer Studienhauschronik besonderes Augenmerk. Es handelt sich dabei naturgemäß nicht um ein geschlossenes Werk, das in sich sprachlich, in den Proportionen der Texte und in den inhaltlichen Akzentuierungen auch nur annähernd ein- heitlich konzipiert wäre. Vielmehr verleiht die Individualität der jeweiligen Chro- nisten eines Semesters den Berichten einen eigenständigen und zudem wegen der mangelnden Redigierung der Texte den vorläufigen und unabgeschlossenen Charakter von Impressionen. Insofern man das als Besonderheit der Gattung Chronik ansehen mag, ergibt sich daraus ihre Relativität und individuelle Be- dingtheit, die deutlich ihre Grenzen nicht zuletzt für die Erschließung histori- scher Vorgänge aufzeigt. Hinzu tritt die natürliche Tendenz, vor allem die her- ausragenden Ereignisse zu dokumentieren und hinter ihnen den Alltag zurück- treten zu lassen. Diesen Einschränkungen steht indes eine ausgesprochene Stär- ke der Gattung Chronik gegenüber. Denn in überaus authentischer Weise weiß sie über das Milieu von Leben und Lernen in einer Studienhausgemeinschaft zu unterrichten, indem sie ein Licht auf die Mentalität von studentischem Leben und Lernen wirft. Das Spannungsfeld von Studium, studentischem Leben, Kir- che und Zeitgeschichte wird in einem Abschnitt der deutschen Historie erhellt, der unbestritten Interesse verdient und trotz mehrerer vorliegender wissenschaft- licher Beiträge zur Geschichte der Reformierten im Kirchenkampf noch der wei- teren Untersuchung besonders im Hinblick auf einzelne Persönlichkeiten harrt 21 . Gerade die Individualität und Unabgeschlossenheit der Semesterberich- te trägt dazu bei, einen unmittelbaren und authentischen Eindruck vom stu- dentischen Leben und Lernen in schwieriger Zeit zu gewinnen. Das bedeutet für die Beurteilung der Studienhauschronik, daß sie als aufschlußreiches Zeit- dokument und Zeugnis der Geschichte einer Epoche zu würdigen ist, deren wissenschaftliche Erfassung nicht zuletzt auch auf individuelle Berichte von Zeitgenossen angewiesen ist. Zusätzlich und gleichsam als Kommentar zu den Texten tragen die zahlreichen in die Chronik eingeklebten Fotographien, von denen einige in der vorliegenden E ition abgedruckt sind, zur Deutung des Lebens in der Studienhausgemeinschaft bei. Die Chronik des Reformierten Studienhauses wurde 1938 angelegt und reicht zunächst bis 1947. Offenbar war sie dann 16 Jahre lang verschollen und wur- de infolgedessen nicht weitergeführt. Nachdem sie im Juli 1963 bei Aufräum- Einführung 7 21 Vgl. Lekebusch (wie Anm. 5); Friedrich Middendorff, Der Kirchenkampf in einer refor- mierten Kirche. Geschichte des Kirchenkampfes während der nationalsozialistischen Zeit innerhalb der Ev.-ref.Kirche in Nor westdeutschland. Göttingen 1961 (AGK 8); Hermann Vorländer, Aufbruch und Krise. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Reformierten vor dem Kirchenkampf. Neukirchen-Vluyn 1974 (BGLRK 37).Eine instruktive Studie zur Exi- stenz im Kirchenkampf am Beispiel von Klugkist Hesse liegt vor von Gottfried Abrath, Sub- jekt und Milieu im NS-Staat.Die Tagebücher des Pfarrers Hermann Klugkist Hesse 1936- 1939. Analyse und Dokumentation. Göttingen 1994 (AKZG [B] 21). arbeitenim Haus wiedergefunden wurde, vereinbarten die Hausbewohner, an die Tradition der Semesterberichte anzuknüpfen. Zunächst sei ein Blick auf die Hausordnung geworfen, die der »Stiftsvater« Kamlah Kamlah Kamlah am 1. November 1940 bekanntgab und jedem Bewohner zur Unter- schrift vorgelegt hat. Die ersten Sätze lauten: »1.Das Studienhaus in Göttin- gen ist eine Stiftung reformierter Gemeinden, die mit ihren Gaben zunächst den theologischen Nachwuchs und dann auch junge, bewußte Gemeindeglieder anderer Fakultäten fördern wollen. 2. Daraus folgt, daß die jeweiligen Insassen des Hauses es als ein Vorrecht zu schätzen wissen, wenn sie in den Genuß eines solchen Stipendiums gelangen und daß ihre innere Haltung und das äußere Benehmen entsprechend ausgerichtet ist. 3. Da es sich also weder um ein Hotel noch um ein Pensionat möblierter Damen und Herren handelt, ist jeder gehal- ten, die von Semester zu Semester zu bestimmende Hausordnung zu beachten und nach ihr sich zu richten. 4. Die Insassen des Reformierten Studienhauses bilden sowenig einen Verein wie eine Verbindung oder eine Kameradschaft. Sie sollen einen Freundeskreis darstellen, in dem alle bewußte Glieder ihrer Kir- che sind, in dem jeder jedem völlig vertraut und jeder jedem hilft. Niemand steht oder stellt sich außerhalb der Semester-Gemeinschaft.«Nähere Hinweise zum Alltag der Hausgemeinschaft finden sich am Schluß der Ordnung: »Ver- schlafen schlafen oder beim Senior nicht entschuldigte Verspätungen zu den Mahlzei- ten werden durch eine Geldbuße von 0,20 Mark in die Hauskasse geahndet. Andere Verstöße gegen die Grundsätze oder die Hausordnung können eben- falls durch Geldstrafen oder durch eine andere Buße geahndet werden.«Un schließlich heißt es: » Im Hause hat jeder auf den anderen und seine Arbeit Rück- sicht zu nehmen und sich stets möglichst ruhig zu verhalten. Nach 22 Uhr hat absolute Ruhe zu herrschen.« Wenn wir nun zunächst nach der Zusammensetzung der Hausgemeinschaft im Berichtszeitraum 1938-1947 fragen, so sind drei Auffälligkeiten zu nennen: Erstens nimmt bei Kriegsbeginn 1939 die Zahl der Theologiestudierenden deutlich ab, was umgekehrt zu einem Ansteigen der Zahlen von Studierenden anderer Fachrichtungen in erster Linie Mediziner, daneben Juristen, Volks- wirte und Naturwissenschaftler führt. In den Jahren 1940-1944 wohnt zeit- weise nur noch ein Theologiestudent im Haus. Erst im Wintersemester 1945/ 46 steigt die Zahl der Theologiestudierenden wieder deutlich an. Eine Über- sicht, die eine Auswahl von Semestern berücksichtigt, mag das verdeutlichen: Sommersemester 1938: 11 Theologen, 3 Mediziner und 1 Philologe. 3. Trimester 1940: 1 Theologe, 8 Mediziner, 1 Chemiker, 2 Volkswirte, 1 Med. Assistentin und 1 Philologe. Trimester 1941: 5 Theologen, 6 Mediziner, 1 Jurist, 1 Volkswirtschaftler, 1 Phi- lologe und 1 Med. Assistentin. Sommersemester 1941: 1 Theologe, 2 Volkswirte, 6 Mediziner und 1 Philologe. 8 Chronik des Reformierten Studienhauses Wintersemester1941/42: 1 Theologe, 1 Philologe, 7 Mediziner, 1 Volkswirt, 1 Chemiker und 1 Jurist. Sommersemester 1942: 7 Mediziner, 1 Chemiker, 2 Juristen und 1 Naturwissen- schaftlerin. Wintersemester 1942/43: 6 Theologen, 7 Mediziner, 1 Jurist, 1 Naturwissen- schaftlerin und 1 Volkswirt. Sommersemester 1943: 2 Theologen, 9 Mediziner und 1 Volkswirtin. Wintersemester 1943/44: 1 Theologin, 10 Mediziner und 1 Volkswirtin. Sommersemester 1944: 1 Theologe, 8 Mediziner, 1 Volkswirtin, 1 Philologin und 1 Naturwissenschaftlerin. Wintersemester 1945/46: 13 Theologen, 1 Mediziner, 1 Philologe und 1 Jurist. Sommersemester 1946: 10 Theologen und 1 Jurist. Wintersemester 1946/47: 9 Theologen und 1 Jurist. Sommersemester 1947: 9 Theologen, 1 Naturwissenschaftler und 1 Jurist. Zweitens unterliegt die Zahl der Hausbewohner in den Kriegsjahren stän- dig Schwankungen, da immer wieder einzelne Studierende zum Wehrdienst an die Front und zu Wehrübungen eingezogen werden bzw. auf Urlaub oder für längere Zeit wieder in das Haus und damit ins Studium zurückkommen. Drittens wird im Bericht vom Sommersemester 1939 vermerkt, daß es »einen gewaltsamen gewaltsamen Einbruch in dieses Mönchskloster « mit dem Einzug einer Studentin gegeben habe. Und ein Jahr später ist nach dem Einzug weiterer Studentinnen sogar davon die Rede, daß das Semester »vollkommen unter dem Zeichen der Frauenemanzipation« gestanden habe und eine »frauliche Atmosphäre« sich aus- gebreitet habe. Bedingt durch den Krieg und den damit verbundenen Einzug der Männer zum Wehrdienst befinden sich die Frauen in den Jahren 1942-1944 eindeutig eindeutig in der Majorität. Das soll durch eine Übersicht, die wiederum eine Auswahl von Semestern berücksichtigt, verdeutlicht werden: Sommersemester 1938: 15 Männer. Sommersemester 1939: 14 Männer und 1 Frau. Herbsttrimester 1939: 14 Männer und 1 Frau. 1. Trimester 1940: 14 Männer und 1 Frau. 2. Trimester 1940: 12 Männer und 3 Frauen. 3. Trimester 1940: 9 Männer und 5 Frauen. Trimester 1941: 12 Männer und 3 Frauen. Sommersemester 1941: 9 Männer und 1 Frau. Wintersemester 1941/42: 11 Männer und 1 Frau. Sommersemester 1942: 8 Männer und 3 Frauen. Wintersemester 1942/43: 6 Männer und 10 Frauen. Sommersemester 1943: 4 Männer und 8 Frauen. Wintersemester 1943/44: 4 Männer und 8 Frauen. Einführung 9 Sommersemester1944: 3 Männer und 9 Frauen. Wintersemester 1945/46: 12 Männer und 4 Frauen (Aus- und Einzüge während des Semesters). Sommersemester 1946: 8 Männer und 4 Frauen. Wintersemester 1946/47: 8 Männer und 3 Frauen. Sommersemester 1947: 10 Männer und 1 Frau. Leben und Lernen bedeutet im Spiegel der Chronik der Jahre 1938-1947 die Bemühung um eine Lebens- und Lerngemeinschaft, die in schwierigen Zeiten ein erstaunliches Maß an Stabilität und Normalität vermitteln konnte. Das Haus hat sich in jenen Jahren als Anlaufstelle und Heimat für reformierte Studieren- de aus unterschiedlichen Fakultäten erweisen können, was u.a.auch aus dem bleibenden Kontakt zahlreicher ehemaliger Bewohner zum Haus zu schließen ist. Bei der Formulierung des Gründungszwecks des Studienhauses 1921 stand noch die Zurüstung künftiger reformierter Pfarrer im Zentrum. Ende der dreißi- ger Jahre verschob sich bedingt durch die Zeitereignisse der Schwerpunkt zu ei- nem Haus, das vornehmlich gemeinschaftsbildenden und persönlichkeits- fördernden Charakter besaß und diese Aufgaben nicht zuletzt auch durch die Vielfalt der Studienfächer und Interessen seiner Bewohner erfüllen konnte. Doch es ist auch kritisch zu fragen, ob sich in der Chronik ein spezifisch reformiertes oder zumindest protestantisches Profil des Studienhauses abzeich- net. Die Antwort lautet: eher nein. In den Chronikeintragungen der Jahre 1938- 1947 leuchtet ein solches unverwechselbares Profil nur am Rande auf. Das gilt etwa für den seltenen Hinweis auf die gemeinsame Bibellektüre im Rahmen der Hausandachten oder die Erwähnung, daß sich in den Kriegsjahren der Mut der Väter bewährt habe, ein Reformiertes Studienhaus errichtet zu haben. In keinem Bericht ist jedoch davon die Rede, daß sich die Bewohner mit der gegen- wärtigen Situation in den reformierten Gemeinden, deren Belastungen durch das Kriegsgeschehen, dem Kirchenkampf, der Bekennenden Kirche oder gar dem Widerstand gegen die Diktatur des nationalsozialistischen Staates eingehender beschäftigt hätten. Einzig die vagen Notizen über Hausabende mit der Diskus- sion über bewegende Fragen lassen erahnen, daß auch Grundsätzliches, wozu die angedeuteten Aspekte gehören, erörtert wurde. Gewiß darf das Schweigen der Chronik über diese Aspekte des Zeitgeschehens nicht vorschnell beredt gemacht und der Schluß gezogen werden, daß es keine reflektierende Ausein- andersetzung mit dem Zeitgeschehen gegeben habe. Es ist ferner zu bedenken, daß die zentralen Jahre des Kirchenkampfes im Zeitraum vor Beginn der Chro- nikaufzeichnungen liegen und somit bereits der Vergangenheit angehören. Aus gut verständlichen Gründen werden in den Berichten die Pflege der Gemein- schaft sowie kulturelle Unternehmungen ins Zentrum gerückt, um damit zu dokumentieren, daß das Studienhaus inmitten der Kriegsereignisse die Funk- tion übernehmen konnte, vom Zeitgeschehen abzulenken und den Bedürfnis- 10 Chronik des Reformierten Studienhauses sendes Menschen nach Normalität, Stabilität und kultureller Aktivität zu ent- sprechen. Und so werfen die Eintragungen in der Chronik erneut ein Licht dar- auf, daß die Geschichte der Reformierten in jenen Jahren homine confusione keinesfalls identisch ist mit der Geschichte der Bekennenden Kirche und des Widerstandes. Die zumal unter den Reformierten lange Zeit gepflegte Hagiogra- phie ihrer Geschichte 1933-1945 ist an ihr Ende gelangt und muß revidiert werden 22 . Einführung 11 22 Vgl. dazu auch den Beitrag von Eberhard Busch, Reformierte Tradition im Kirchenkampf. In: RKZ 139 (1998), S. 122-130. Chronikdes Reformierten Studienhauses in Göttingen 1938-1947 Ordnung des Reformierten Studienhauses vom 1. November 1940 1) Das Studienhaus in Göttingen ist eine Stiftung reformierter Gemein- den, die mit ihren Gaben zunächst den theologischen Nachwuchs und dann auch junge, bewußte Gemeindeglieder anderer Fakultäten fördern wollen. 2) Daraus folgt, daß die jeweiligen Insassen des Hauses es als ein Vorrecht zu schätzen wissen, wenn sie in den Genuß eines solchen Stipendiums gelangen und daß ihre innere Haltung und das äußere Benehmen ent- sprechend ausgerichtet ist. 3) Da es sich also weder um ein Hotel noch um ein Pensionat »möblier- ter ter Damen und Herren« handelt, ist jeder gehalten, die von Semester zu Semester zu bestimmende Hausordnung zu beachten und nach ihr sich zu richten. 4) Die Insassen des Reformierten Studienhauses bilden sowenig einen Ver- ein wie eine Verbindung oder eine Kameradschaft. Sie sollen einen Freun- deskreis darstellen, in dem alle bewußte Glieder ihrer Kirche sind, in dem jeder jedem völlig vertraut und jeder jedem hilft. Niemand steht oder stellt sich außerhalb der Semester-Gemeinschaft. 5) Zur Aufnahme in das Haus ist ein schriftlicher Antrag mit kurzem Lebenslauf zu stellen und einzureichen. Wird dieser Antrag vom Stiftsva- ter genehmigt, so hat der Antragsteller durch Unterschrift hierunter zu bekunden, daß er willens ist, obiges zu befolgen und die Hausordnung immer zu halten. 6) Dem Senior obliegt die Durchführung der Hausordnung, er ist Ver- bindungsmann zwischen dem Stiftsvater und der Corona. Er ist primus inter pares und jeder verpflichtet sich, seinen Anordnungen Folge zu lei- sten. 7) Die Hausordnung, die in ihren Einzelheiten den Umständen entspre- chend abgewandelt werden kann, besagt im Wesentlichen folgendes: a) Jeder ist im Besitz eines Hausschlüssels (der beim Auszug abgegeben wer- den muß) und hat freien und ungehinderten Ein- und Ausgang, hat sich aber in und außer dem Hause so aufzuführen, daß er dem Hause Ehre macht. b) Die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen. Ausnahmen sind nur in begründeten und dringenden Fällen vom Senior zu gestatten, die Mor- genandacht hält der Senior oder ein von ihm dazu bestimmter. c) Der Tagesraum und die Zimmer sind peinlichst sauber zu halten, die Möbelschonsam zu behandeln. An Sonntagen säubert jeder seine Stube selbst. d) Die jeweilige Hausmutter ist von allen Insassen selbstverständlich zu achten, ihre viele Arbeit zu würdigen und ihre Wünsche, die sie dem Seni- or vorträgt, zu respektieren. e) Beschwerden, Wünsche oder Anregungen sind zunächst dem Senior vor- zutragen. ) Verschlafen oder beim Senior nicht entschuldigte Verspätungen zu den Mahlzeiten werden durch eine Geldbuße von 0,20 RM in die Hauskasse geahndet. Andere Verstöße gegen die Grundsätze oder die Hausordnung können ebenfalls durch Geldstrafen oder durch eine andere Buße geahn- det werden. g) Wer die Bibliothek benutzen möchte, hat sich an den jeweiligen Biblio- thekar zu wenden. Dieser ist verantwortlich für alle Bücherei-Fragen. h) Im Hause hat jeder auf den anderen und seine Arbeit Rücksicht zu neh- men und sich stets möglichst ruhig zu verhalten. Nach 22 Uhr hat abso- lute Ruhe zu herrschen. Göttingen, am 1. November 1940 Kamlah 1 Pastor der re . Gemeinde zu Göttingen und Stiftsvater 14 Chronik des Reformierten Studienhauses 1 Theodor Kamlah (1887-1968) war von 1920 bis 1958 Pfarrer der re . Gemeinde Göt- tingen, 1928 Mitgründer des Bundes ev.-ref.Kirchen Deutschlands und von 1929 bis 1964 dessen Präses. Ordnung 15 16 Chronik des Reformierten Studienhauses Ordnung 17 18 Chronik des Reformierten Studienhauses Ordnung 19 KurzerRückblick Bei Anlage dieses Buches befinden sich im Studienhaus noch Leute, die schon im Sommersemester 1938 hier gewohnt haben, und es sollen kurze Berichte über die verflossenen Semester vom 1. April 1938 ab gegeben werden. Sommersemester 1938 Es fanden sich elf Theologen, drei Mediziner und ein Philologe ein, die unter dem Seniorat von Vikar Eduard Haas ein Semester zusammen verlebten. Hier unten sind diese fünfzehn Männer im Bilde zu sehen. Die Theologen: Eduard Haas, Vikar bei Herrn Pastor Kamlah, Willi Born, Vikar bei Prof. Weber, ebenso Lutz Heinen. Sönke Habben und Edzard Klüver steckten in Examensarbeiten und bestanden am Ende des Sommers in Aurich ihr 1. theol. Examen. Beide waren Ostfriesen, ebenso die drei Mediziner. Diese fünf tranken mit viel Liebe und Ausdauer ihren Tee. Dann kamen die übrigen Theologen: Otto Bode, Hermann Radtke, Wer- ner Brölsch, Jürgenmeier, Wilhelm Dietrich und Wiemann. Die Mediziner waren Hermann Wübbena, sein Bruder Wilhelm, der nach- herige »Onkel Paul« und Frieder Voget, , der ausgiebig die eben errungene Frei- heit vom Kommiß als sorgloses 1. Semester genoß. So ereignete sich nichts Absonderliches, das zu berichten wäre. Es wurde viel und mit gutem Examens- erfolg gearbeitet. 20 Chronik des Reformierten Studienhauses Wintersemester1938/39 Jetzt ging das Seniorat an Willi Born über, ein preußischer Wachtmeister, der den Kreis unter seiner straffen Führung zu einer Einheit gestaltete und der eine Haus- ordnung aufstellte und auch für ihre Durchführung sorgte. Ein Bild gibt saus jenem Semester leider nicht mehr. Die Hausinsassen, Theologen: Ernst Willen- berg, Wilhelm Voget, Heiner Bartling, Paul Freikunft, Gerhard Wallmann, Otto Dohmeier alles neue Gesichter. Ein Jurist, Hans-Jürgen Möseritz, zog ein. Auch dieses Semester sah fleißige Arbeiter: Weihnachten 1938 bestand Hermann Wübbena das medizinische Staatsexamen, am Ende des Studienabschnitts mach- ten Heiner Bartling und Paul Freikunft in Hannover ihre 1. theol. Prüfung. Wil- helm Wübbena und Frieder Voget bestanden in Göttingen das Vorphysikum. Otto Bode bestand in Aurich die 1. theol. Prüfung. Außer der Arbeit vereinten uns manche Kneipen und ein Tanzfest im Kinder- garten 2 , Willi Born sorgte für alles und für noch mehr. Ihm muß ein Denkmal gesetzt werden. Leider mußte er uns im Sommersemester 1939 verlassen. Sommersemester 1939 Ihm wurde sehr nachgetrauert und sein Andenken gepflegt. Wilhelm Voget über- nahm das Amt des Seniors und führte es im Geiste von Willi Born weiter. Es gelang, diesen mit seiner Braut im Sommer als Gast hier zu haben. Auf dem »Waldschlößchen« 3 3 3 feierten wir ein Damen- und Tanzfest, zu dem wir im Auto- bus fahren durften. Der Stiftsvater »stiftete« in diesem Semester reichlich. Als die Corona abgekämpft war, wurde untenstehende Blitzlichtaufnahme gemacht: In der Mitte die jugendlichen Balleltern, über ihnen in der obersten Reihe Willi Born und Braut. Dieses Fest veranlaßte Georg Buitkamp, einen neu eingezoge- nen Theologen, zu vielen lustigen Versen. Er war unser unvergessener Wilhelm Busch. Willi Born und Arnold Küttner wetteiferten auf dem Klavier und auf der Bierorgel. Ernst Willenberg und andere waren besondere Freunde der Polizei und der Straßenlaternen. Einen gewaltsamen Einbruch in dieses Mönchsklo- 1938/39 21 21 2 Nachdem die Ev.-ref.Gemeinde Göttingen 1933 das alte Logenhaus in der Oberen Kar- spüle für Gemeindezwecke gemietet hatte, versuchte sie es 1937 zu erwerben. Der Kauf als Gemeindehaus mißlang, da von Staats wegen die Veräußerung von beschlagnahmten Immo- bilien an die Kirche verboten war. Um die Gemeindegruppen nicht auflösen zu müssen, wurde das Reformierte Studienhaus für die Gemeinde genutzt. Am Eingang entstanden ein großer Raum für den Konfirmandenunterricht und daneben ein Raum für den bereits gegründe- ten Kindergarten. Dafür mußte eine Wand herausgebrochen werden, die wie sich sodann herausstellte eine tragende Mauer war. In Eile wurde eine eiserne Säule eingebaut, die »Mazzebe« genannt wurde und um die herum die Studenten bei ihren Festen tanzten; vgl. Karl Eduard Haas, Der Bund evangelisch-reformierter Kirchen Deutschlands. Erlangen 1982, S. 34f. 3 Das »Waldschlößchen« war ein Ausflugscafé zwischen Reinhausen und Bremke südöst- lich von Göttingen. sterunternahm in jenem Semester Maria Zimmer, die »nie dafür kann«.Ihr Bruder Claus gab bald seine Erziehungsversuche auf. Unendlich viel Freude und Bruderschaft brachte dieses an Festen, Kneipen und Ausflügen reiche Semester. Wer zählt die Zigarren, die der Senior weniger verteilte als selbst rauchte, wer vergißt die ungezählten Tee- und Skatstunden, wer vergißt jene ernsten Aben- de auf Arnold Küttners Bau? 22 Chronik des Reformierten Studienhauses Gewitterwolkenhingen am Himmel, und von fernher vernahm man schon Waffengeklirr und Kriegsgeschrei. Dieser Sommer war wie ein letzter Abschied von friedlichen, sorglosen Zeiten, ein Genießen, bevor der bittere Ernst begann. In den Ferien waren »Onkel Paul«, Willi Koch, Frieder Voget zusammen in Schlesien im Landdienst. Gustav Bruns und Peter Hatig steckten in Examens- nöten. Mitten in die Ferien hinein holte die Mobilmachung die ersten wieder in den grauen Rock. In alle Winde wurde der Kreis zerstreut, Willenberg und Wilhelm Voget wurden nach Göttingen eingezogen und konnten noch als Sol- daten ihr Examen bestehen. Auch Peter Hatig und Gustav Bruns beendeten ihre Studien. Im Laufe des Krieges dann auch Werner Brölsch, Wallmann, Küttner und Buitkamp und Claus Zimmer. Dann begann im Oktober 1939 das Herbst- trimester 1939. Herbsttrimester 1939 Ein Rückblick ist und bleibt immer eine zweischneidige Angelegenheit. Einer- seits behält man zwar nur das Schöne, andererseits vergißt man auch wieder viele kleine, nette Episoden, deren Ausfall der eine oder andere vielleicht bedau- ert. Schadet nichts, oder wie es in meinem ersten Haustrimester hieß: »Macht bitte bitte fast gar nichts!« Und mit diesem Logon bin ich schon mitten im Geist des ersten Kriegstrime- sters, das durch viele markante »Logien« sich auszeichnete. Da war oft die Rede von einem Herrn Leutnant, der die Front abreiten sollte und kein Pferd hatte, von dem Scheck, den ein gewisser Onkel »van Tragemich« hatte, und derglei- 1939 23 chenschöne Dinge mehr. Es war eine lustige Corona, die ich, frisch dem Reichs- arbeitsdienst entsprungen, hier antraf. Alle wurden überragt, zwar nicht an Haupteslänge, so doch an Körperfülle von unserem lustigen, lieben alten » Onkel Paul«, dem dem dem Mann des Studienhauses. Er war es auch, der dafür sorgte, daß die junge Tradition der vielen Feste würdig fortgesetzt wurde. Ihm zur Seite stand als »Supp-Senior« Wilhelm Koch, zwar ruhig, doch bei allem »Rabbatz« dabei. Günter Stub, klein, aber oho, sorgte als Fuchsmajor liebevoll dafür, daß wir Füchse anständig erzogen wurden, nebenbei war er Mensch und konnte sehr »tief denken«.Dann kommt Martin Immer, an dem ich unmöglich so kurz vor- übergehen kann, da er soviel zu unserer Belustigung beitrug, zumal wenn er bei Tisch in hochgeistige Probleme verfiel, die er dann als Zweitsemester kurz eben löste. Er pflegte sich dann auch für seine geistigen Reden körperlich bestens zu präparieren, indem er, ehe er anfing, noch einmal eine gehäufte Gabel in den Mund spendierte, damit wir ihn besser verstehen konnten. Ein sicheres Indiz auf seine Anwesenheit im Hause war sein Ofen. Brannte er, so war Martin si- cher nicht da. Glich sein Zimmer aber einem Eiskeller, dann saß Martin da, qualmte wie ein Schlot und arbeitete. Karl Heller, der Kraftmensch, brauchte auch dementsprechend Energie. Manchmal war er beim Essen kaum noch zu sehen. »Es will doch keiner mehr Bratkartoffeln!?«,und fort waren sie. Und zwischen dieser rauhen Rotte und uns jungem Gemüse blühte ein zar- tes, junges Pflänzchen, damals noch die »filia hospitalis«. Das sind die markantesten Gestalten aus der damaligen Corona. Die beson- deren Ereignisse waren außer zwei Bierabenden, die einfach klotzig waren, lei- der immer nur Feste, die wir den Leuten gaben, die Vater Staat aus unserer Mitte holte: Rudor , Immer und Koch, der aber bald wieder zurückkehrte, was dann ein umso froheres Fest gab. Martins Abschiedsfeier wurde sogar so toll, daß er auf seinem Weg zur Bahn noch an der Polizeiwache Station machen mußte. Er war beim Abtestat 4 auf dem Gänseliesel vom Schutzmann gefaßt worden. Scha- de, daß dieses Trimester nur so kurz war! Das neue Jahr brachte dann das 1. Trimester 1940. 1. Trimester 1940 Durch die vielen Abgänge zum Heer wurde viel Raum, so daß viele neue Leute ins Haus kamen. Bei vielen war der Begriff »neu« allerdings recht subjektiv, denn es handelte sich um alte Studienhäusler, die reumütig ins Stift zurückkehrten. So war die Zusammensetzung der Corona eine ganz andere. Es wurde mehr gearbeitet. Alle anderen an Arbeitskraft überragte Sebirowski. Man sah ihn ei- gentlich nie ohne Buch. Er saugte die Worte aus dem Munde der Professoren, 24 Chronik des Reformierten Studienhauses 4 Eigentlich Testat eines Hochschulprofessors am Ende des Semesters. alsob sie eitel Honig wären. Darum starb er auch fast, wenn er einmal ein Kol- leg versäumte. Auch Eisenberg war ein wüster Arbeiter. Er kam sich eigentlich mehr als ein Apostel unserer lieben Freunde aus dem »Stillen Ochsen« 5 5 vor. Gegen Ende taute er allerdings ganz groß auf. Nicht zu vergessen ist auch unser »süßes Baby« und enfant terrible, der Knabe Möseritz (er kam aus der Schweiz zurück).Wir wollen seiner rühmend gedenken. Denn er hat unserer Verspä- tungs- und Bierkasse das meiste zukommen lassen. Eine ganz markante Gestalt war Werner Brölsch. Schon altes Haus, war er doch immer zu allen Streichen aufgelegt, nur Bier konnte er nicht trinken, denn er nippte immer nur am Glase. Zur Abrundung des Bildes müssen wir noch Schauer und Pagenkopf erwäh- nen, die als feindliche Freunde einander dauernd in den Haaren lagen und doch ein Herz und eine Seele waren. Das erste große Ereignis, ich möchte fast sagen, das Ereignis, war »Onkel Pauls« Physikum. Die Komplexe waren verschwunden, der Grund für eine tolle Feier war gegeben, »Hei, das war ein schönes Fest, wallera« ...Den Rest möge sich der geneigte Leser selbst ergänzen. Und dann kam ein einschneidendes Ereignis. Das Haus bekam Zuzug. Wo- chenlang war schon die Rede davon und der Kampf hatte schon wüst getobt. Besonders Frau Schulz war schwer dagegen und versprach, den neuen Einwohner höchst eigenhändig umzubringen. Aber als er dann mit wippendem Öhrchen und wackelndem Schwanz herantrippelte, war aller Zorn verflogen. »Fifi« hieß er und Maria bezeichnete ihn als ihren Sohn. Sie mußte es ja wissen. Fifi war 1940 25 5 Bezeichnung für das alte Theologische Stift in der Jüdenstraße, Ecke Mühlenstraße. anfänglichnoch unerzogen, vor allen Dingen pflegte er oft Drinnen und Drau- ßen zu verwechseln. Daß er des öfteren fortlief, kann man wohl kaum als anfängliche Unerzo- genheit betrachten, denn das tut er heute noch. Unser Stiftsvater war jedenfalls mit dem neuen Insassen einverstanden, denn er sah seiner feierlichen Taufe wohl- wollend zu. Und damit wäre ich beim zweiten Fest, dem Bierabend auf dem Haus. Der Tagesraum war vor lauter Girlanden, Sesseln und bunter Beleuch- tung nicht wiederzuerkennen. Es war ja auch »Onkel Pauls« Abschiedsfest. Der »wärmende Ofen« des Hauses zog aus, uns in der Kälte zähneklappernd zurück- lassend. Aber zum Schluß haben wir uns noch ein ganz tolles Ding geleistet. Wir dran- gen in den »Stillen Ochsen« ein, sangen zackig einen Vers vom Polenmädchen und dann kam unser Gong. Erst ganz leise, dann immer mehr aufschwellend, bis sein Gedröhne von einem entsetzlichen Geschrei unsererseits übertönt wurde und in dem Donnergepolter, mit dem wir die Treppen hinabstürmten, unter- ging. Mit diesem urigen Streich schied »Onkel Paul« von uns. Es war in einer Hinsicht ein ganz tolles Semester, nämlich im Hinblick auf die Temperaturverhältnisse. Ein Semester in tiefstem Schnee und mit eisigster Kälte. Das waren noch Zeiten, als Lokus und Wasserleitung jeden Morgen zuge- froren waren! Da kann man nur sagen: »Gut, daß man im Winter kein Obst bekommen kann!« Außer »Onkel Paul« machten dann noch Claus Zimmer und Schorse Buit- kamp, zwei Studienhäusler im feldgrauen Rock, hier in Göttingen Examen. 2. Trimester 1940 Unterschied sich schon das vorige wesentlich vom 1. Kriegstrimester und damit erst recht vom Sommersemester 1939, so war dieses Trimester eine grundlegende Umwandlung. Es stand vollkommen unter dem Zeichen der Frauenemanzipa- tion, denn schon bald, zu bald, mußten uns Werner Brölsch und Karl Heller verlassen, und an ihre Stelle traten zwei Mädchen: Inge Georgi und »Klein-Eki«. Das Ereignis war da. Maria war entthront. Nur schwer konnte sie sich daran gewöhnen. An die Stelle des männlichen Tons trat nun das »betont« Weibli- che. » Unmöglich « wurde ein geflügeltes Wort bei uns. Die frauliche Atmosphäre, von der man bei Maria nicht gerade sehr viel gemerkt hatte und die auch Klein- Eki nicht wesentlich verstärkte, »säuselte« sanft durch unseren Tagesraum. Manchmal säuselte sie auch schon vom Wall bis hinauf in Wilhelm Immers Zim- mer. Leute waren nicht mehr viel da. Günter Strub war wieder zurückgekehrt, um sein Examen zu machen. Wilhelm Immer, ein Vetter des berühmten Mar- tin, hatte sich auf Anraten ebendesselben auch hierher begeben. Dann war da noch Kurt Petersen, ein »Hamburger Junge«, und besagter Möseritz, der wie- der ebensoviel zur Vermehrung unserer Bierkasse als zu unserer Heiterkeit 26 Chronik des Reformierten Studienhauses beitrug,wenn er um 7.28 Uhr den Federn entsprungen um 7.32 Uhr unten erschien. Zu Oberhemd und Schuhen hatte es dann meist nicht gereicht. Als Hemdersatz diente dann ein malerisch um den Hals geschlungenes Handtuch, an den Füßen hingen vorn ein paar Schlappen, die er fama est , um schnel- ler die Treppe herunterzukommen, erst unten anzog. Zeitweise wohnte dann auch noch Wilhelm Dietrich hier, der während eines kurzen Urlaubs sein Studium zu Ende bringen wollte. Trotz des ewig-weiblichen Etwas, das sich unter uns breit gemacht hatte, wird uns die Stiftsbowle, die uns unser lieber Waldmeistervater (ich wollte sagen: ... na, Ihr wißt schon) gab, unvergessen bleiben. Die hatte es in sich. Das kann man wohl sagen. Ein großes Hallo gab der Besuch der »Stillen Ochsen«, die bei uns nächtli- cherweise eingedrungen waren und Budenzauber veranstaltet hatten. Ein sofor- tiger Racheakt unsererseits war die Folge. Er hat gewirkt, denn schon am näch- sten Tage kamen Abgesandte, die um Frieden baten. Sonst ist eigentlich nichts weiter zu bemerken, als daß das Semester höchst »gefühlvoll« verlief, so daß der gute alte Geist, der sowohl im ersten als auch im zweiten Kriegstrimester geherrscht hatte, zurückgedrängt war. Daß er aber trotzdem nicht tot ist, wird uns hoffentlich das nächste Trimester zeigen. 3. Trimester 1940 Und wieder eine völlig neue Zusammensetzung! Mitte September 1940 fan- den sich allerlei bisher im Hause nicht gesehene Leute ein. Lauter Leute, wel- 1940 27 chedie Gewähr bieten, daß das Haus auch in Zukunft » das Haus von allen Häu- sern« bleibt. Acht Männlein und sechs Weiblein waren s anfänglich! Mit den fünf Gemeindedamen und dem Mittagsgast und Dauerredner Enno Bartels eine recht ansehnliche Haus- und Tischgemeinschaft. Inge Georgi und Jürgen Becker verließen uns am 1. November, und Karl Heller und Heinz Rudorf zogen ein. In diesem Trimester überwiegt bei weitem die medizinische Fakultät. Sie drückt die beiden Volkswirte Heller und Petersen, die Chemikerin Hanni Ochlich an die Wand. Nur ein Theologe zeugt von vergangener und hoffentlich auch wer- dender Pracht: Heinz Rudor . Ihm wurde unsere Bibliothek zur Aufsicht und zur Instandhaltung anvertraut. Unser Plutokrat Adolf Kraushaupt, ein Sanitätsfeldwebel der Luftwaffe mit unverschämten »Studiengebühren« von Seiten des Kommiß sah sich zu unse- rer großen Freude genötigt, seinen Einstand in Form einer Bowle zu geben. Ansonsten gibt er im Verein mit dem Senior Frieder Voget Abend- und wohl auch Nachtkurse im »positiven Schwätzen«.Es soll auch schon negativ verlau- fen sein, und es finden sich immer Leute, die ihren weisen Reden lauschen oder auch ihnen das Wort aus dem Munde nehmen. Nachdem sich die Gesellschaft berochen und für gut befunden hatte, stieg auf dem Waldheim die Semesterantrittskneipe. Unsere »Buben« (Pitt Schmidt, Willi Bär und Tom) zogen das Faß auf einem christlichen Gemeindehandwa- gen in die Berge. Vorher nahm der Stiftsvater beim Antreten die Parade ab. Im Bilde sieht man den Stifter vor seinen Stiften. Die Leute standen an den Straßen still und sahen zu, wie da eine laut-lusti- ge ge Gesellschaft mit einem Bierfaß auf dem Wagen Fifi war vorgespannt, auf 28 Chronik des Reformierten Studienhauses demFaß Maria als Bacchantin durchs Städtchen zog. Und sie sahen so aus, als ob ihnen ganz langsam aus ihrer frühesten Jugendzeit dämmerte, daß es in Göttingen ja Studenten gab und tatsächlich! noch gibt. Berge steigen macht Schwitzen, und Schwitzen ist Wasserverlust, und Wasserverlust bringt Durst, und Durst macht trinken. Als wir oben waren, hatte eine Flasche Steinhäger bereits ihr kostbares Leben lassen müssen. Wenn auch der Kran und das » Gestän- ge« zum Faß nicht mitgekommen waren, es sprudelte doch und ihr werdet lachen wir haben s doch auf und alle bekommen. Gemeinsame Unternehmungen wurden des öfteren getätigt. An einem Sonn- tag Nachmittag fuhren wir in größerem Kreise weniger ins Grüne als ins Nasse. Die Zeiten und Künste der Pfadfinder sind lange dahin, das haben wir gemerkt, als wir nach langen Irr- und Umwegen über »die Gleichen« nach Gelliehausen wanderten, allwo wir den Wirt um seine letzten Würste und die Kühe um ihre letzte Vollmilch brachten. Nur gut, daß er gleichzeitig Postagent war, sonst hätte er gewiß unseren Bedarf an Karten nicht decken können! Ein andermal waren wir zu einem Orgelkonzert, zu einem Bachabend, wo uns Fräulein Lena Heim sie kommt immer noch zu spät zum Essen! bedach- te, und sie bezweifelte wohl etwas unsere Orgelkenntnisse, deswegen mußten wir s fachfraulich des öfteren hören, daß eben das »Rückpositiv« nicht so zur Geltung käme. Bei der Reformationsfeier diente sie an der Orgel und wir mit der Stimme, wobei wir sie aber mit unserem frischen Gesang weit hinter uns ließen! Eines Nachts wurden verschiedene Leute durch den wohlbekannten Haus- Husten diesmal im Original in ihrem süßen Schlummer gestört. Auf dem 1940 29 Wallstand der Sanitätsgefreite Wilhelm Wübbena alias »Onkel Paul«, der Ein- laß begehrte und auf seinem Heimaturlaub die Stätte seines ruhmvollen Wir- kens aufsuchte. War das eine Freude! An diesem Abend haben wir dem Kell- ner im »Schwarzen Bären« das Laufen beigebracht. Eine sangesfreudige Coro- na (oder heißt es doch: Carona, wie Frau Schulz sagt?)feierte hier ein fröhli- ches Wiedersehen. Auch der Stiftsvater fühlte sich in seinem Element und mein- te zu wiederholten Malen: Es sei ja »sooo niedlich!«. Von kleineren Unternehmungen soll nicht weiter berichtet werden, auch möge man nicht abfällig die Nase rümpfen, wenn immer nur von Festen und Feiern die Rede ist. Es geschah und geschieht auch allerlei, das sehr erfreulich ist und sich doch nicht eignet, erzählt und erredet zu werden. Jeder weiß, daß ein Semester und eine Gemeinschaft nicht nur aus Festen und weithin hör- und sichtbarer Fröhlichkeit besteht. Eine Neuerung haben wir eingeführt: Auch oder gerade! samstagsmorgens ist gemeinsame Andacht und gemeinsames Frühstück. Unser Kreis hat bei solchen und ähnlichen Anlässen auch wohl mal Lücken, da wir Leute unter uns haben, die von drohenden Examensnöten und eingebil- detem Nichtwissen geplagt werden: Adolf Kraushaupt beginnt allmählich, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er im Februar-März sein Staatsexamen machen will, Maria, die den Stoff von drei Semestern nachholt, ebenfalls. Otto und Klein-Eki sehen ihrer schweren Stunde am Ende dieses Semesters entgegen. Sie wollen im Physikum alles bisher Dagewesene schlagen, und Koch brütet über seiner Doktorarbeit. Die andauernden Veränderungen in den Donau- und Bal- kanländern lassen seine Wirtschaftsarbeit über diesen Raum nie ganz befriedi- gend fertig werden. Wenn sich grad ein einigermaßen klares Bild ergeben hat, dann ist der »status quo ante« bereits wieder über den Haufen geworfen. Es geht aber nicht nur jeder seiner Arbeit nach, die Corona ist nicht nur fei- ernderweise vereint, sondern auch hört und seht in gemeinsamer Arbeit. Der Himmel weinte, und die Leine schluckte nicht mehr. Unser Keller war ihre letzte Rettung, und er bot leider nur allzuviel Platz für ungeheure Wassermen- gen. War das ein Hallo, als stundenlang Eimer nach Eimer die lange Kette pas- sierte! Stiefelbewehrte Leute standen unten im »Kesson«, und nach harter, mit starkem Humor gewürzter Arbeit, war der Keller nicht mehr schwimmenderwei- se, sondern wieder trockenen Fußes zu passieren. An diesem Abend es war der 5. November erschien glücklich und uner- wartet der Herr des Hauses, Leutnant Willi Born. Wir »improvisierten« mal wieder in der Junkernschänke. Ein müder Krieger und stellenloser und sor- genvoller Vater wurde wieder jung und freute sich, daß es immer noch Fröh- lichkeit im Hause gab, wie er sie gefördert und miterlebt hatte. Diese Chronik und der Zustand des Hauses fanden seine Anerkennung und volle Billigung. Am folgenden Tage auch der 6. November muß behalten werden griff der Stiftsvater tief in die Tasche und erstand zur Verschönerung des Speise- 30 Chronik des Reformierten Studienhauses zimmersund zu unserer Gemütlichkeit einen Tisch und zwei Sessel, die nun vor dem »Plüsch« stehen. . Ein Markstein in der Geschichte der Stiftungen und ein verheißungsvoller Anfang! Wir sind dem edlen Spender dafür und für vie- les andere sehr dankbar! Der 7. November hatte es auch »in sich« oder vielmehr: Wir hatten es abends in uns. Und auch das muß verbessert werden: Wir hatten sie in uns, die Bowle nämlich, die Pastor Kamlah mit Frau und Töchtern für uns in seiner Wohnung bereitet hatte. Zum Abendessen fand man sich teils ohne Schlips, teils noch in gestreiftem Hemd, teils auch im passenden dunklen Anzug ein. Als es dann so weit war, zog man in freudiger Erwartung zur Unteren Karspüle. Der Senior mit dem unvermeidlichen Blumen-Rosenstrauß (und dafür sind wir nun immer zu spät zum Essen gekommen!),und Otto Hövels schleppte einen vielverspre- chenden Koffer mit sich. Herzlicher Empfang bei den Gastgebern, nur Maria Zimmer und Sohn fehlten noch. Als sich dann jeder in seinem Sessel nieder- gelassen hat, kommen die unvermeidlichen Reden. Sie werden glücklich über- standen, und jeder freut sich, der ganz vorzüglichen Zitronenbowle zusprechen und alle Ehre antun zu dürfen. Die angeregte und fröhliche Stimmung ließ auch nicht lange auf sich warten, Scherze und Lieder in stetem Wechsel. Fast jeder wußte etwas zu bieten. Zunächst wurde unser »Fürst« mit einem Lied geehrt, stahlhelm- und säbelbewehrt stand er erhöht und ließ sich die Huldigung sei- ner Völker darbringen (»aus seinem Munde sollte er riechen, ein Riesenroß soll- te er sein, und aufhängen wollte man ihn« usw.).Die Studierstube sollte »unse- res res Geistes reinen Hauch« verspüren, so drückte Pastor Kamlah sich aus und das hat sie auch. »Dat magste wohl sagen!«Tom reicht Fifis Lebenslauf nach für die pastörlichen Akten, auch in der Chronik soll dieses Machwerk einge- fügt werden. Dann tritt Otto als reizendes Mädchen auf und läßt uns in das gemarterte Herz einer versetzten Landbraut blicken. Gleich hinterher deklamiert 1940 31 selbigerOtto das Lied von der Glocke, zuerst als Dichter, dann als preußischer Feldwebel, als Schuljunge, als beschäftigter (!)Soldat, der das Gedicht in der Zeitung findet usw. Ein heiterer Männerchor verursacht Freude und trockene Kehlen. Die Buben Pitt und Willi treten in einem lustigen Spiel auf. Sie sin- gen zwei Zeilen eines Schlagers, wer sich getroffen fühlt, muß aufstehen. Was wettet ihr, wer aufstand, als gesungen wurde: »Auch ich war ein lockerer Jüng- ling mit Haar!«?Wir wußten noch gar nicht, daß Pastor Kamlah eine Glatze hatte. Es wird spät und niemand verspürt Lust, den gemütlichen Abend ab- zubrechen. »Die Bowle ist aber auch wirklich gut« meint Karl Heller und läßt sich noch schnell ein Glas einschenken. Nun ist es aber soweit, der Senior beugt einem Rausschmiß vor, verabschiedet sich und dankt im Namen der Corona, hier an dieser Stelle noch einmal: unser Dank sind keine leeren Worte! Der Wohltaten waren noch nicht genug geschehen, am nächsten Tage durf- ten wir uns für unseren Tagesraum noch zwei weitere Sessel holen, damit auch jeder seine Gemütlichkeit habe. Wir wurden durch so viel Güte recht beschämt. Bald gaben uns die Stiftseltern die Ehre ihres Besuches zu einem Linsenessen. Sie sahen sich unsere also verschönte Ecke an und bewunderten eine weitere Neuerung: Karl Heller hatte seine zeichnerischen Fähigkeiten in Betrieb gesetzt, und über der Plüsch-Ecke hängen jetzt die getreuen Konterfeis und markan- ten Gesichter der »Stiftler«.Wir hoffen, daß sich auch in späteren Semestern Leute finden, die zeichnen können, oder die sich auf Scherenschnitte verste- hen. Ein guter Fotograf (als die Menschen noch Griechisch konnten, schrieb man Photograph) ist auch stets notwendig! Unser Dauerredner Enno Bartels wohnte zwar nicht im Haus, aber er hat sich hier die bürgerlichen Kräfte für fleißige Examensarbeiten geholt: »summa cum cum laude« ist das was? Wir gratulieren, Herr Doktor! Am Donnerstag, dem 14. November, durften wir die Gönner und Erhalter unseres Hauses beherbergen. Der Präses des Bundes reformierter Gemeinden hatte zu einer Tagung und Presbyter-Versammlung eingeladen. 40 Menschen füllten unseren Tagesraum, D. Michaelis 6 , Prof. Jeremias 7 und Prof. Weber 8 hiel- ten ausgezeichnete und anregende Vorträge. Zwischendurch fand eine Haus- besichtigung statt. Wir haben uns bemüht, einen möglichst guten Eindruck zu machen und wir glauben, daß das auch gelungen ist. Herr Lic. Schlier/Leip- zig zig 9 z. B. bot uns an, unsere Bibliothek zu bereichern, auch in medizinischer Hin- 32 Chronik des Reformierten Studienhauses 6 Curt Walter Michaelis (1866-1953), seit 1919 Dozent an der Theologischen Hochschule Bethel und Vorsitzender des Gnadauer und deutschen Verbandes für Gemeinschaftspflege und Evangelisation. 7 Joachim Jeremias (1900-1979), seit 1935 Ordinarius für Neues Testament an der Uni- versität Göttingen. 8 Otto Weber (1902-1966), seit 1934 Ordinarius für Reformierte Theologie an der Uni- versität Göttingen. 9 Heinrich Schlier (1900-1978), seit 1945 Ordinarius für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Universität Bonn. sicht.Er hat gute Beziehungen zu Leipziger Verlagen. Abends war eine große »reformierte Familie« im gemütlichen Kreis in der »Krone« 10 10 10 versammelt. Tom erzählte aus seinem wildbewegten Kriegserleben im französischen Heer. Pastor Kamlah wurde als ein Zwitter von Vater und Onkel gefeiert, worin wir ein- stimmen konnten. Ein Film von Spiekeroog, wo die Göttinger Gemeinde ein Heim hat, ließ große Sehnsüchte wach werden, doch dort einmal wieder seine Ferien verleben zu können 11 . Zwei Geburtstagskinder hatten wir in diesem Trimester zu befeiern. Willi Bär und Kurt Petersen konnten nicht umhin, »sich etwas merken zu lassen«. Aus sehr eigennützigen daher wohl auch zu verständlichen Gründen dar das Rezept der Bowle nicht verraten werden. Das Renommierzimmer des Hau- ses, Adolfs Bau, war als Spielzimmer für uns große Kinder hergerichtet, besser: ausgeräumt, und in Kurt Petersens Räumlichkeiten fand der feuchte Teil die- ser Orgie statt. Einzelheiten zu schildern erübrigt sich wer weiß nicht, wie s bei solchen internen Festen zugeht? Der soll sich bei mir melden, er wird näch- stes Mal eingeladen. Unsere Hanni das muß aber doch eben erwähnt wer- den übertraf sich selbst. Bis zum Schluß (weiß noch jemand, wann der war?) hat sie ausgehalten und hat sich sinnlos an ungezählten Gläsern herrlichster Bowle berauscht, die sie den anderen einschenkte. Dank sei Dir, Hanni, daß 1940 33 10 Gaststätte in der Weender Straße. 11 Im Jahr 1928 wurde das »Haus Spiekeroog« von der Ev.-ref.Gemeinde Göttingen erwor- ben und 1964 neu erbaut. Mehrfach wurden Bewohner des Studienhauses als Begleiter von Jugendfreizeiten eingesetzt. DuDich so für uns geopfert hast, was das Einschenken und was die Abstinenz angeht. Obwohl La Jana 12 in die ewigen Filmgründe eingegangen ist, durften wir sie an diesem Abend unter uns sehen. Pitt gab in vollendeter Meisterschaft ihre Tänze zum Besten. Die Corona war froh und ausgelassen. Je weiter wir in den Advent hineinkamen, je näher Weihnachten und die Feri- en rückten, desto mehr wurden verschiedene Gemüter von Fleißprüfungen und Examensnöten geplagt. Kurt gab seine Dissertation ab und fuhr dann mit Enno ins Allgäu nach Oberkirchen zum Wintersport und zur Erholung. Bevor uns auch Eki und Hanni verließen, versammelte Pastor Kamlah seine Völker noch zu einem Semesterschluß- und Abschiedsabend. Unser Tagesraum war festlich hergerichtet, Adventskerzen, Buntpapier umwundene Stehlampen, kleine Ti- sche und große tiefe Sessel, im Hintergrund ein ansehnliches Faß. Der Nikolaus erschien, brachte jedem ein Spielzeug, kleine Aufmerksam- keiten, die aufmerksam machen sollten. Wie s gemeint war und die Nutz- und Gebrauchsanweisung hatte der Nikolaus (Otto Hövels) in lustigen Versen aus- gedrückt. Willi Bär hatte den Faust nach passenden Zitaten durchgeackert, und Johannes Röslers Geschichten machten auch Spaß. Ein Schreib- und Zeichen- spiel sah die Frauen im Ziel vor den Männern. Ein Trimester ging zu Ende, das uns allen viel Freude und Gewinn gebracht hat. Wir sind um eine schöne Erinnerung reicher geworden. Kurt, Eki und Hanni werden uns wohl verlassen. »Onkel Paul«, Werner Brölsch und Bruno Dory, drei »Ehemalige«, haben ihr Kommen in Aussicht gestellt. Beim Schluß des 3. Trimesters 1940 und am Jahresschluß sind wir dankbar für so viel Frieden in so ernster Zeit. Wir gehen auseinander, jeder mit guten Wünschen für alle anderen. Auf Wiedersehen und Gott befohlen! Trimester 1941 Wenn wir jetzt am Anfang des Wintersemesters 1941 das Buch aufschla- gen, das eine Chronik des Studienhauses sein sollte, so starren uns gähnend leere Seiten an. Wie kann man nur so pflichtvergessen sein, Ihr Herren Seni- oren! Man hätte nun angesichts dieser leeren Seiten die Wahl zwischen drei Möglichkeiten: 1. Den Herren das Buch nachschicken, aber da muß man zuerst das Buch verpacken, dann auf die Post damit stürmen, es aufgeben und wer weiß, wann es dann wieder zurückkäme! und in welchem Zustand?!Möglich- keit Nr. 2: Die beiden Semester einfach überspringen. Aber nein! Das darf doch nicht sein. Es gibt so vieles, das festgehalten werden muß und das wir festhalten wollen. Greifen wir also zu der dritten Möglichkeit: selbst schreiben. So will 34 Chronik des Reformierten Studienhauses 12 La Jana, eigtl. Henriette ( Jenny) Hiebel (1905-1940) war eine beliebte Tänzerin und Filmschauspielerin. Sie spielte Hauptrollen in Filmen wie »Der Tiger von Eschnapur« (1938), »Das »Das »Das Indische Grabmal« (1938) und »Der Stern von Rio« (1940). ichdenn in meinem Gedächtnis » entrümpeln « . Vielleicht findet sich darin noch so manches. Das Trimester 1941 sah im Studienhaus ganze fünf Theologen! Recht erfreu- liche Tatsache, umso erfreulicher, als dies seit langer Zeit nicht mehr der Fall war. Prächtige Kerle, von denen wir »Laien« noch so manches zu lernen haben. Kommen wir aber zu dem, was passiert ist. Es ging glaube ich mit einer Bowle bei Adolf Kraushaupt los, und zwar am 13. Januar. Nettes, gemütliches Gelage, bei dem wir erst mal richtig warm wurden und uns wappneten für die nächsten Feiern. Am 20. Januar 1941 steigt im Haus die von Pastor Kamlah gestiftete Antritts- kneipe. Als Gäste waren da: Claus Zimmer, Gerd Wallmann, Heinz Pauschert. So viele alte und ehemalige Senioren waren wohl selten zusammen. Es war ein frohes Wiedersehen. Die alten und älteren Sachen wurden aufgefrischt. Wie viele Erinnerungen gab es doch! Anschließend an dem Abend (es war bald zu Ende, denn bei so vielen »Alten« vom Studienhaus wird das Bier schnell alle!)mach- te Pastor Kamlah einen Rundgang durch das Haus. In so mancher Bude hatte sich vieles geändert. So fand z.B.Heinz Rudorf seinen »Hundestall« vollständig leer vor. Ein einsames Brikett lag noch in der Mitte der Bude. Nach langem Suchen fand Rudorf endlich sein Bett. Es hing an dem Fenster und hatte wie nachträglich festgestellt wurde bei Familie Berg ein Fenster eingeschlagen. Am 19. Januar 1941 war Claus Zimmer auf Besuch gekommen. Er and sein Schwesterlein aber nicht vor. Dieses war beim Reiten! Wo denn auch sonst? Kurz entschlossen wurde die Tür zu Marias Gemächern gewaltsam geöffnet. Es ist eben Krieg. 1941 35 Am23. Januar 1941 wurde die Hochzeit von Helmut Schulz, Zahlmeister, gefeiert. Inzwischen hat uns die schmerzliche Nachricht erreicht, daß Helmut Schulz in Rußland gefallen ist. Alle die ihn kannten, wissen, was unsere Haus- mutter an ihm verloren hat. Erika Schmidt und Otto Hövels feierten am 27. Januar 1941 ihr glänzend bestandenes Physikum (mit 1).Wir versammelten uns zu fröhlichem Trunk im »Schwarzen Bären«.Unser Stiftsvater war auch dabei. Fräulein Wilkens, ein oft und gern gesehener Gast im Haus, feierte auch mit. Hatte sie doch auch ihr Physikum mit 1 bestanden. Beim Nachhausegehen landete die Gruppe: Wil- kens, Brölsch, Elsmarie Bär, Willi Bär, Pitt, Tom auf der Polizeiwache! Sie hat- ten Krach gemacht auf der Straße. Es war ein lustiges Hin und Her auf der Wache und blieb ohne Folgen. Aber das mußte auch mal sein. So steht nun ein Teil der Studienhäusler im Notizbuch eines Wachtmeisters der Göttinger Polizei. Am 1. Februar 1941 stieg das Damenfest! Als Gäste waren da: Herr und Frau Pastor Kamlah ( Frau Pastor als Ballmutter) , Herr und Frau Hövels ( Ottos Eltern) , Erika Schmidt, Fräulein Wilkens, Töchter Kamlah, Herr und Frau Pauschert, Hanneli Voget ( Frieders Schwester) , Kurt Schmidt ( Anschrift: Deutschland, Adolf Hitlerstraße), Fräulein Hela Siemers (»Onkel Pauls« Braut).Helen und Maria hatten es sich nicht nehmen lassen, den Kindergarten mit einer Serie von Bil- dern auszuschmücken. Überhaupt war der Kindergarten nicht wiederzuerken- nen. Er sah geradezu phantastisch aus. Wir waren sehr stolz auf ihn. Sogar eine Bar war da! Pitt machte seine Sache als Barmixer ausgezeichnet! Aber der Betrieb an der Bar ging erst richtig los, als die Gläser kostenlos gefüllt wurden. 36 Chronik des Reformierten Studienhauses Früham Morgen saß noch eine kleine Gruppe beisammen, die zur Erho- lung sich einen starken Bohnenkaffee gebraut hatte. Die Tassen und Teller, sie- ben an der Zahl, wurden in einem Papiertaschentuch verstaut. Selbiges aber zer- riß und die ganze Ladung ging in die Brüche. Das war der mit Humor getra- gene Abschluß eines herrlichen Festes. Am 2. Februar 1941 machten wir einen Bummel nach Nikomonte 13 . Eis und Schnee! Wir vertilgten dort oben Massen von Kuchen. Die Rückkehr vollzog sich auf dem ...na ja ...es war halt so glatt! Rudorf ein ganz Schlauer hatte sich ein Tablett zu eigen gemacht, auf dem er mehr oder weniger stilvoll den Berg hinuntersauste. Leider konnten an diesem Fest Kurt Petersen und Enno Bartels nicht teil- nehmen. Sie wären uns liebe Gäste gewesen. Am 13. Februar 1941 besuchte uns Ferdinand Immer, genannt Immo. Es gab ein frohes und gründliches Zechen im Ratskeller. Die arme Elsmarie hatte alle Mühe, drei blaue Männer (wer?)nach Hause zu schaffen. Als am 15. Februar 1941 30 Flaschen Sekt ankamen, fühlte man im Haus eine festliche Stimmung. Pitt hatte sie besorgt. Am 18. Februar 1941 versammelte sich die Corona in der Junkernschänke, wohin auch zu kommen uns die Familie Kamlah die Freude machen. Es war ein gemütliches Beisammensein bei einer Flasche Wein. Als wir nach Hause kamen, waren wieder mal einige Buden durcheinander, aber die Täter waren nicht zu ermitteln. 1941 37 13 Ortschaft Nikolausberg bei Göttingen. Am26. Februar 1941 wurde bei dem jungen Glück Leni Schulz-Mallon ein Polterabend veranstaltet. Mit dem unmöglichsten Material bewaffnet zog die Corona zur Franz Seldtestraße 23/6.Hauptsache war: Es machte Krach. So hat- ten sich einige mit einer blechernen Waschbütte bewaffnet, in der unzählige Steine lagerten. Damit zogen sie durch die Straßen. Alle drei Schritte setzten sie sie auf der Straße auf: Eins zwei drei Rums! Eins zwei drei Rums! Solchen Radau hatte man in Göttingen schon lange nicht mehr erlebt. Nach- dem die Gesellschaft bei Frau Schulz reich bewirtet worden war, begab sie sich (samt Waschbütte) in den Ratskeller. Ungeheueres Aufsehen. Mit einem Schlag war man bekannt. Aber schön war s! Tags darauf, am 27. Februar 1941, luden Herr und Frau Pastor Kamlah uns zu einer Bowle ein. Es war wieder mal ein Fest, wie wir es gern feiern. Herr- lich gemütlich, mit viel Humor. Husmann hatte sich Weine geleistet, die Herz und Seele erfreuten. Kurz aber treffend waren alle karikiert. Doch namentlich der gute Bruno sah sich als »alten Eheknochen« von aller Welt beschrien. Selbst- verständlich spielte auch sein Sohn, auf den wir alle ein wenig stolz waren, eine kleine Rolle mit. Am 4. März hatte die Fischerin unser guter Küchengeist Geburtstag. Er wurde am 5. März 1941 gefeiert. Zu gleicher Zeit feierten wir die Hochzeit von Frau Mallon-Schulz.Ja, ja, es stimmt schon. Sogar getanzt wurde dabei. Es ist ja, ach ja, so schön gewesen! Wenn man an den Kaffee und an den Kuchen denkt, der nie aufgehen wollte! Da hatte Frau Schulz wieder mal was für ihre Jungen gemacht, das sich sehen lassen konnte. 38 Chronik des Reformierten Studienhauses Am18. März 1941 fuhr Pitt in die Ferien als erster! Der Abschied wurde gebührend gefeiert. Das Gelage fand im Ratskeller statt. Wieder mal » total blau « . Und dann kam noch unsere Schlußkneipe. Als Gäste waren da: Willi Lohr, Werner Hensel. Die beiden »Luftiküsse« sollten bald in unsere Gemeinschaft aufgenommen werden. Die Bilder nebenan zeugen von dem schönen Abend. Er vollzog sich im Tagesraum des Studienhauses. Das wären so ziemlich alle Feste, die wir zusammen feierten. Aber noch vie- les andere hat sich ereignet. »Noch?«,wird man wohl fragen. Ja nun, es war halt wieder mal ein ereignisreiches Semester. Das Stöhnen aus Frauenmund: » Fifi ist weg « . . . war an der Tagesordnung. Fifi s Mutti machte gegen Schluß des Seme- sters dann ein glänzendes Examen es war ja auch nicht anders zu erwarten(!). Daß aber selbige Mutti uns nach ihrem Examen verlassen hat, dürfte bis heute noch nicht verschmerzt worden sein. Sie zog nach Berlin. Die besten Wünsche für eine Zukunft, wie sie sich sie selbst wünscht, begleiten sie. In Elsmaries, genannt Riebschen, Leben trat auch ein großes Ereignis. Sie durfte unter starker und lieber Bewachung nach Kassel fahren und versank dort für einen Abend in dem sündhaften Treiben einiger Bars. Auch in Adolfs sensibler Junggesellenseele spielte sich so manches ab. Tat- ort: Hainberg. Daß er dann später sein Staatsexamen bestand, lag wohl daran, daß im Sommer die Nächte kürzer sind, daß der Mond in diesen Nächten also nicht so lange scheint, was zur Folge hat, daß Mondscheinspaziergänge nicht so lang ausgedehnt werden können. Aber auch sein Eifer (Arbeitseifer, natür- lich!)und seine Begabung sind maßgebend an seinem Examenserfolg beteiligt [gewesen]. 1941 39 Erwähnenwir noch kurz: Zwei Mädchen waren mit zwei Luftiküssen aus- gegangen. Aber, ach!,sie hatten ihre Schlüssel vergessen. So hätte man denn ei- nen Luftikus sein Rad auf die Schultern schwingen sehen können , sich auf dem Wall aufstellen und das Rad mit dem Dynamo in Bewegung setzen, um auf diese Art Licht zu erzeugen, [das] war die Frucht eines langen Nachden- kens. Währenddessen half sein Genosse den beiden Mädels über die Mauer, sonst hätte am nächsten Morgen Frau Schulz Elsmaries und Annemaries Zimmer nicht zu machen brauchen. Husmann ließ sich auf Toms Kosten seinen Anzug samt Hemd und Krawat- te reinigen. Tom hatte ihm aus Versehen einen halben Teller Suppe darüber ge- schüttet. Frieder verbrachte einen großen Teil des Semesters in der Klinik, wo ihn ein Nierenleiden auf das Lager zwang. Er vertrieb sich die Zeit mit Skatspielen, lesen, arbeiten. Karl Heller erwarb sich große Verdienste durch Zeichnungen. Er setzte die Serie der Ahnengalerie fort. Das war das Trimester 1941! Es gab viel Verdruß, aber noch viel mehr Freu- de. Wir denken alle mit Dankbarkeit an diese Zeit zurück. Viele haben uns ver- lassen und stehen im Felde. Unsere Gedanken weilen bei ihnen. Wir wollen versuchen, das Haus in ihrem Geist weiterzuführen. Sommersemester 1941 Man ist so gütig gewesen, mir als »Neuem« den Bericht über dieses Semester zu überlassen. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Vielleicht kommt die Freude, wenn ich in den alten Erinnerungen schwelge, von selbst. Wenn man neu in eine Gemeinschaft aufgenommen wird, hat man ja viel schärfere Augen für das, was vor sich geht, als andere. Gleich zu Beginn ist da nun eine lustige Begebenheit zu verzeichnen. »Held« war war war Adolf (er stand ja fast immer im Mittelpunkt).Adolf hatte ja vor, in die- sem Semester Examen zu machen. Wie das nun so kommt: Wenn man viel arbei- tet, braucht man etwas Schlaf. Das dachte auch Adolf, als er beschloß, nach dem Essen »etwas zu ruhen«.Er hatte aber das Pech, genau über dem Tages- raum zu wohnen. In besagtem Tagesraum weilte zur selben Zeit ein lustiger Ver- ein unter Führung Elsmaries. Man kann nicht verlangen, daß sowas leise ist. Adolf dachte das auch, und »man ist ja schließlich Kavalier«.Er schluckte sei- nen Ärger herunter und haute sich aufs andere Ohr. Als nach einer Viertelstunde das Klavier unter kundigen Händen zu »hämmern« begann, wurde jemand im Zimmer drüber langsam unruhig. Es gab noch einen Trost, das Wort »Beneh- men men ist Glückssache«.Unser Adolf würgte also seinen aufsteigenden Groll her- unter. Dadurch wurde es aber nicht ruhiger unten. Im Gegenteil: Man kam in Stimmung. Frau Schulz tat ihr übriges und schloß von außen den Raum ab. 40 Chronik des Reformierten Studienhauses Dasreizte zu neuen Taten: Pitt und Willi sprangen unter allgemeinem Beifalls- geheul aus dem Fenster auf den Wall. »Jetzt platzt mir der Kragen«, dachte oben der also Aufgestörte und steckte seinen Kopf zum Fenster raus. Er bat um Ruhe: nichts! ! Er drohte: nichts! ! Er wurde ein Mann und schritt zur Tat. Mit einem Glas Wasser schlich er zum Flurfenster. Das bemerkte Frau Schulz und fand sich mit Frau Fischer als Schlachtenbummler ein. Adolf holte tief Luft, schwang das Glas und die hinter ihm stehende Frau Schulz stand wie weiland Moses (»der aus dem Wasser Gezogene«) da. Das war für Adolf zu viel. Er beschloß, endlich schlafen zu gehn. Falsch!!!Unten ging es weiter. Willi trat als Retter auf und versuchte, die eingeschlossene Corona zu befreien. Das gelang auch nach langen Verhandlungen mit Frau Schulz. Als Bekräftigung aber warf die »Fische- rin« rin« einen »Kappeskopp«, der Elsmarie traf. Leise ging das nicht zu. Das dach- te auch Adolf und sprang wutschnaubend die Treppe hinunter. Das war Pech: Im selben Augenblick schleuderte Elsmarie nämlich besagten »Kappeskopp« zurück, zurück, zurück, der dann prompt den heranstürmenden Adolf an das zermarterte Hirn traf. Adolf sah rot, Adolf vergaß seine gute Erziehung, Adolf schleuderte »Rieb- schen« schen« auf das Sofa und ward nicht mehr gesehen. Es war inzwischen ½3 Uhr Uhr geworden, und oben im Zimmer vollführte Adolf einen Parademarsch. So begann das Semester, viele lustige Geschichten schlossen sich an. Ich grei- fe einige heraus. Da ist das Stichwort »Fräulein Penzin« (alle Beteiligten bre- chen jetzt schon in ein Schmunzeln aus).Ob ich will oder nicht: Das muß ich berichten. Alldieweil Frau Schulz sich unter Männern wohler fühlt als unter Damen, beschloß sie, uns nach nämlichen Wesen im Hause Herberge zu gewähren. Kam 1941 41 daeines Tages ein Fräulein Penzin und wollte im Haus wohnen. Abgelehnt!!!So nebenbei erfuhr die Corona von diesem Vorgang und war gar nicht damit ein- verstanden. Schon aus »erzieherischen« Gründen ging das nicht. Also wurde der Plan gefaßt, Fräulein Penzin herbeizuschaffen, koste es, was es wolle!!Noch am selben Abend sollte das geschehen. Göttingen ist groß, man mußte also syste- matisch vorgehen. In Grüppchen zu zweien zog man los: In allen Hotels, Gast- stätten und Kaffees wurde die Frage nach »Fräulein Penzin« laut. Selbst in Kinos wurde es ausgerufen. Nichts!!Zwei besonders Schlaue (Werner Hensel und Heinz Rudor ) »kämmten« die Straße der S.A. 14 ab. Jedes einigermaßen gut aussehen- de Mädel wurde angesprochen: »Ach verzeihen Sie, sind Sie Fräulein Penzin?« Alles hatte keinen Erfolg. Da in einem Hotel fand sich der Name, , aber »heute Mittag ausgezogen, neue Wohnung nicht bekannt«.Tom rief das Einwoh- nermeldeamt an. Die wußten auch nichts. Es war zum Tollwerden. Am anderen Morgen ging es weiter. Endlich!!!Durch den »studentischen Zimmernachweis« wurde wurde die Adresse ermittelt. Nach zwei Besuchen, bei denen Fräulein Penzin nicht zu Hause war, wurde sie schriftlich ins Haus bestellt. Sie kam auch, aber daß es trotzdem nichts wurde, lag nicht an uns und nicht an ihr. Dafür kann keiner. Am 1. Mai war ein gemeinsamer Ausflug nach den »Gleichen«.Auch das war sehr nett. Besonders auf der Rückfahrt, als die Sportler Wettrennen mit der Bimmelbahn machten. Ich denke ferner an den Mondscheinabend, an dem Pitt auf dem Wall »La Jana« Jana« machte. Oder ich denke an die Zeit im Freibad mit dem 10 m-Turm, 42 Chronik des Reformierten Studienhauses 14 Weender Straße in Göttingen. deres ja besonders Adolf angetan hatte. Da tauchten dann auch die Worte »Pa- pierkorbfurchen, Pigmentflecken, Finchensekt« usw. auf. Alle diese Worte sind zu Begriffen geworden. Ich denke auch an den sehr gelungenen Tanzabend, der für Adolf so unheilvoll wurde. Er hat sich bis heute noch nicht davon erholt. Man könnte Bände schreiben, so viel ist damals geschehen. Auch der Durst kam zu seinem Recht. Besonders sind da die Antrittskneipe und der Bowleabend bei Pastor Kamlah zu erwähnen. Daß trotzdem Adolf und Karl Heller, unser Senior, ihre Examen bestanden, muß man ihnen hoch anrechnen. Am 23. Juli war dieses ereignisreiche Semester vorüber. Wintersemester 1941/42 Als Als Neuem ist mir die weniger angenehme Aufgabe zuteil geworden, der ehr- würdigen Tradition der Semesterchroniken ein weiteres Glied anzuhängen. Zuvor sei sogleich noch be- merkt, daß ich infolge mei- nes Leidens leider nicht überall mit dabei sein konn- te. Deshalb mußte ich in meinen Bericht andere als Zitat kenntlich gemachte Schilderungen mit heran- ziehen. Beginnen wir einmal zunächst mit der Antritts- kneipe am 21. November 1941. Schauplatz ist unser Tagesraum. Nach einer wür- digen Rede unseres Stiftsvaters(der auch das ausgezeichnete Münchener Bier ge- stiftet hatte) wurden wir fünf Neuen in die Hausgemein- schaft aufgenommen, indem wir feierlich die Hausord- nung unterzeichneten. In dem dann folgenden inoffi- ziellen Teil des Abends wur- den wir dann sehr fröhlich, und manche drolligen Scher- ze wurden da zumBesten gegeben, ich erinnere da nur an Willis »Befehlsausgabe in Runxendorf« oder an das 1941/42 43 43 Liedvom Mondenschein in Göttingens schöner Umgebung, das von Elsmarie (die gerade für einige Tage im Haus auf Besuch weilte) meisterhaft vorgetragen wurde. Anfang Dezember kam Werner Brölsch von der Ostfront und übernahm das bis dahin von Tom verwaltete Seniorat. Am 15. Dezember 1941 stieg die Weihnachtsfeier mit Herrn Pastor Kam- lah, Frau Schulz und Frau Fischer. Frau Pastor war leider verhindert und konn- te deshalb nicht an der Feier teilnehmen. Unser Tagesraum war festlich von der Fa. Greiner & Co hergerichtet. Gerd Brand hatte als Vertreter guten mütterli- chen Geschmacks einen wirklich schönen Baum besorgt. Werner Hensel end- lich hatte die dramaturgische Ausgestaltung des Abends übernommen, wobei er köstlich verkleidet als Weihnachtsmann (sprich Wahnachtsmann) erschien und jedem eine mehr oder weniger deutliche, stets sehr ulkige Gardinenpre- digt hielt. Frau Fischer kam dabei besonders schlecht weg. Kurz darauf am 18./19.Dezember 1941 veranstalteten wir in kleinerem Krei- se (einige waren schon in die Weihnachtsferien abgereist) einen netten Abend im Ratskeller. Schon Toms Kommen war mit heiteren Begebenheiten verknüpft: In seiner Eigenschaft als Lektor hatte er eine Vorlesung zu halten. Um eher aufhören zu können, beorderte ihn »Stabsarzt Lohr« in einer dringenden Angelegenheit in den Ratskeller ...somit konnte Tom noch rechtzeitig in den Ratskeller kommen. Keiner von uns wird den Glücksmann vergessen, dessen Lose reißenden Absatz fanden. Besonders Otto schien diesmal Glück zu haben, denn er zog gleich ein- mal 10,- [Mark], aber der erhoffte Fünfhunderter blieb aus, obwohl wir den Ka- sten ausräumten. Im ganzen hatten wir etwa 70 Lose gezogen. Zu Hause gab es noch einen besonderen Spaß, als nämlich Klein Eki in den Schiwinskyschen Kin- derwagen gesetzt und damit im Tagesraum ein »Hebammenflachbahnrennen«« veranstaltet wurde. Frau Schulz war allerdings von dieser nachmitternächtlichen Sportveranstaltung wenig erbaut, ihro Gnaden wurden nämlich im Schlaf ge- stört. Niemand wird die zeitweise alltäglichen, oft hitzigen, aber stets unfrucht- baren Debatten über das Thema »Deutschland Holland England und die Kriegsschuld« vergessen, bei denen Hänschen Ottenheym den dickköpfigen grundsätzlich unbelehrbaren Holländer vertrat. Trotzdem nie ein Ergebnis erzielt wurde es gab ja nie einer nach , waren sie stets sehr witzig. Ende Januar wurden wir einigen von den alten Freunden des Studienhauses vorgestellt. Zu diesem Zweck versammelten wir uns nach gemeinsamem Besuch eines ausgezeichneten Vortrages über »Gottes- und Christusdarstellungen im Wandel der Jahrhunderte« in der Junkernschänke. Leider versiegte die Quelle des köstlichen Nasses schon nach dem ersten Glas, so daß unseres Bleibens dort nicht lange währte. Anschließend wurden alle diejenigen, die zu Hause geblie- ben waren, »besucht«.Dabei kam es in Hans Ottenheyms Gemach zu einem Ringkampf zwischen ihm und Tom, bei dem neben anderen schweren Beschä- 44 Chronik des Reformierten Studienhauses digungenauch die Waschschüssel samt Inhalt sich in den Raum ergoß. Während die Corona ihre »Visite« fortsetzte, rächte sich Hänschen besonders an Tom durch »Umkehren« von Toms Schlafzimmer. Aber auch Gerd Brand und Wer- ner Hensel bekamen ihren Teil ab. Tom sagte dazu nur immer: »So was Billi- ges, nein, wie ist das billig!«,aber er mußte, wollte er sich zur Ruhe begeben, wohl oder übel das »Billige« mit nicht ganz »billiger« Mühe in seinen rechten und »billigen« Normalzustand zurücküberführen. Am 8. Februar 1942 stieg die große Fahrt nach Waterloo 15 Willi, Häns- chen Ottenheym und Rembrandt mußten wegen Examensnöten, Otto aus ge- sundheitlichen Gründen zu Hause bleiben. Über diesen Tag berichtet Gerd Kan folgende Einzelheiten: Am zu Ruhe ladenden Sonntag raus in aller Frühe. Auf nach Waterloo mit Finches und holden Pastor Kamlah-Sprößlingen.Die ganze Woche waren Schlitten organisiert. Sogar zwei Nobelpreisträger-Gleitapparate (zu deutsch: von Prof. Windaus) 16 hatten sich eingefunden. Gott sei Dank hatten sich in letzter Minute auch alle Angehörigen des zarteren Geschlechts eingefunden, so daß das Bähnle lospfauchen durfte. Unterwegs mußte es auf freier Strecke zwar eine Verschnaufpause einlegen, die Gelegenheit gab, uns nach draußen ins schlachtenladende Weiß zu stürzen. Die ersten Ballneckereien begannen. Beim Weiterfahren gab s plötzlich an der Decke platzende Schneebomben mit nachträglich reizenden Spritzern und Tropfen. Die holde Weiblichkeit rächte sich mit zugenähten Ärmeln in Waterloo. Wir raus und im Renngalopp zur 1941/42 45 45 15 Ausflugsort und Haltestelle der Gartetalbahn südöstlich von Göttingen. 16 Der Göttinger Chemiker Adolf Windaus (1876-1959) erhielt 1928 den Chemie-No- belpreis. belpreis. Pensiondie Madeln geschleift. Den anschließenden Anstieg zur Rodelbahn erleichterte uns ein im Sturm genommener Pferdeschlitten. Die Herren der Schöpfung übten sich in neckischem Schneesprühen, die Damen antworte- ten mit entzücktem, aufmunterndem Gezwitscher. Oben angelangt, Ausschau nach »der« Rodelbahn. Nach halbstündigem Marsch unter ...torhafter Führung wurde nur skihaftes Gelände erkundet. Da der Kopf der Expedition tête à tête zum erfolgreichen Rückzug sich begeben hatte, stürzten sich die Glie- der, straffe und zartere, in schneestiebenden Abgrund durch ritzende Disteln und Sträucher, über junge Bäume hinweg in phantastischer blickraubender Fahrt. Viel Hallos ob der Katastrophen und Schneemännerund -frauen.Pastor 46 Chronik des Reformierten Studienhauses Kamlahs 17 mutig an die Front. Hunger und feuchte Füße drängten zu mittag- licher Rückkehr. Der Senior wurde bei dieser Gelegenheit unterwegs wiederge- funden. Tolle Abfahrt von der Kate. Dreißig Meter mit Sprüngen, Rollen, Latten- gekrach. Der Clou des Tages war das Mittagsmahl. »Wer möchte da immer noch mal?«,bei diesem geradezu schlaraffischen Dinner. Eine gute Stunde er- quickenden Ruhens, faul gekuschelt, war vonnöten. Wieder raus zur »Bobbahn«, auf auf auf auf der es hoch durch die Kurven ging. Der Senior rückte immer wieder aus, um auf Suche nach » der « Bahn zu gehen. Nachdem es die letzten Verstauchungen und Blutergüsse auf vermaulwurftem Acker gegeben hatte, ging es in Konvois die »Raus aus Deutschland-Straße« hinab. Rekorde wurden gefahren. Ein Pastor Kamlah-Mann verfolgte die heimziehende Gesellschaft in Bauchlage aus der Knieperspektive. Das Auge des Gesetzes wacht überall, aber vermutlich wie ... siehe Ahnengalerie! Kaffee und herrlicher, unerschöpflicher Kuchen (ein Hoch auf den Geburtstag von Frau Pastor Kamlah!).Gesellige, unterhaltsame Stunde mit Zeichenwettkampf Adams gegen Evas, Ballonaufstieg und Flaschenorakel ...Heim ratterte uns das dunkle, ausgekühlte Bähnlein, das mit dem nicht en- den wollenden (meist Refrain-) Gesang erfüllt ward. Der aufopferungsvolle Tür- platzeinnehmer gab unserem Kreis eine Ahnungsprobe seiner sonntäglichen Kon- zerte. Ja, und die Hände wollten trotz aller eingehenden Bemühung gar nicht warm werden. Göttingen! Heim ins Reich! Soweit Gerd Kan. Am folgenden Tage besuchte uns »Onkel Paul« (zu deutsch Wilhelm Wüb- bena).Zur Feier dieses Ereignisses versammelte sich die Corona einschließlich Pastor Kamlah mit zwei Töchtern im »Schwarzen Bären«.Dort stellte »Onkel Paul« Paul« seine Braut, die Tochter eines Generals der Flieger, vor. Die Stimmung stieg sehr schnell, woran der gute von Pastor Kamlah gestiftete Glührotwein auch nicht ganz unschuldig war. Am Sonntag 22. Februar 1942 war dann der harmonische Abend bei unse- rem Stiftsvater. An diesem Abend weilte unser Werner Brölsch zum letzten Male in diesem Semester unter uns. Pastor Kamlah würdigte in einer in herzlichen Worten gehaltenen Ansprache das Verdienst Werners, das er sich mit seiner uner- müdlichen Arbeit in der reformierten Gemeinde und im Studienhaus, beson- ders aber in der Jugendarbeit, erworben hat. Wir wurden auch daran erinnert, wie Rufe im Hause laut wurden, z.B.:»Werner kommt, Werner kommt!«.Und wie wir ihn dann freudig empfingen, als er noch einmal im Februar auf 14 Tage zu uns kam (sein Urlaub war nämlich schon etwa um den 20. Januar abgelau- fen).Pastor Kamlah schloß seine Rede mit den Worten, daß Werner mit Got- tes reichstem Segen wieder hinausziehen möge, und verlieh der Hoffnung Aus- druck, daß es dann hoffentlich im nächsten Wintersemester ein frohes Wie- dersehen geben möge. Darauf stießen wir unsere mit köstlichem Glühwein gefüllten Gläser an und tranken auf Werners ferneres Wohlergehen. In dersel- 1941/42 47 47 17 Selbstbezeichnung der Studienhausgemeinschaft. benNacht noch mußte er abreisen, ein paar ganz Unentwegte brachten ihn trotz großer Kälte am 23. Februar 1942 gegen 2.00 Uhr morgens an die Bahn. Kurz darauf hatten wir einen wohl einzigartigen Gast für kurze Zeit im Haus, Kollegen Ziegenmaier von der Eresburg. Seine behäbige, breite a-reiche Spra- che erregte »allgeman Haterkat«, sogar Otto konnte da nicht mit, wie allgemein festgestellt wurde. Von seinen eigenen geistigen Fähigkeiten offenbar nicht sehr überzeugt, bat Ziegenmaier jeden, der ihm über den Weg lief, seine schriftli- chen Arbeiten zu lesen und zu begutachten, selbst die unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten waren ihm dazu recht. Das tat jedoch niemand gern, deshalb entzog man sich meist solchen Aufforderungen, indem man sich »hohe Fahrt laufend vom Gegner absetzte«. Am 1. März 1942 erlebte Göttingen unter der Stabführung Doormanns 18 eine ausgezeichnete Darbietung von Bachs » Matthäuspassion « . Es war ein großes Ereignis, so daß ich es hier erwähnen möchte, zumal zwei Hausinsassen mit- wirkten: Hans-Werner Gensichen und Otto. Ein weiterer Teil der Corona betei- ligte sich passiv als andächtige Hörer. Am selben Abend veranstalteten wir unseren letzten Bierabend im Ratskel- ler, wo Willi Lohrs gut bestandenes Physikum gebührend gefeiert wurde. Es ging an diesem Abend sehr fröhlich zu, zumal es diesmal nicht an Stoff fehlte, so daß unsere »Bierkasse« wie beabsichtigt ihr Leben lassen mußte. Am 9. März 1942 bestand unser »Master of Theology« und Leutnant Hans- Werner Gensichen sein Examen, das ihn berechtigt, den Titel »Licentiat« zu tragen, mit »sehr gut« 19 19 . Die meisten von uns erinnern sich sicher noch daran, wie man nicht davon erbaut war, daß das letzte noch freie Zimmer mit einem »Herrn« besetzt werden sollte. Ein Mädel sollte dahin, so hatte die Corona beschlossen, damit Klein Eki nicht das einzige Mädchen im Hause wäre. Nie- mand jedoch dachte noch daran, als nun der »Herr« unter uns weilte und wir merkten, wen wir vor uns hatten. Wir gaben unsern Licentiaten nur ungern wieder her, doch auch ihn ruft wieder das Vaterland, wie so viele. Gott der Herr sei ihm nahe auf allen seinen Wegen und schenke ihn uns fröhlich und unver- sehrt wieder. Noch eines sei erwähnt, daß nämlich auch die Kunst im Hause vertreten war: Hans-Baldung Greiner schuf neben einigen seiner Plastiken eine Reihe neuer wohlgelungener gezeichneter Porträts, die die Ahnengalerie um wertvolle Glie- der bereicherte. Otto vertrat die Musik und betreute den musikalischen Teil der Morgenandachten und sorgte für die Lichtbildkunst im Hause. Das war in großen Zügen das Wintersemester 1941/42.Trotz mancherlei Schwierigkeiten äußerer Art als auch leider öfter innerer Art kann das Haus auf 48 Chronik des Reformierten Studienhauses 18 Kirchenmusikdirektor an der Göttinger St. Johanniskirche. 19 Hans-Werner Gensichen (1915-1999) wurde 1952 Dozent für Kirchengeschichte an der Divinity School der tamilischen Ev.-luth.Kirche in Tranquebar, 1956 Dozent in Madras/Indi- en en und 1957 Professor für Religionsgeschichte und Missionswissenschaft in Heidelberg. einschönes, erfolgreiches Semester zurückblicken. Eines aber wollen wir und alle künftigen Bewohner unseres Hauses stets vor Augen halten, daß wir ein evangelisch-reformiertes Studienhaus waren, sind und bleiben müssen. An die- ser Stelle möchte ich besonders auf Punkt 4 der Hausordnung hinweisen, der besagt, daß wir ein Freundeskreis bewußter Glieder unserer Kirche darstellen sollen. Der allmächtige Gott gebe, daß dieser echte Geist des Hauses in Zukunft in ungeahnter Größe aufblühen möge. Sommersemester 1942 Wieder soll ich einen Semesterbericht schreiben, der leider auch mancherlei Un- erfreuliches nicht ganz verschweigen kann. Aber alle künftigen Hausbewohner mögen diese Worte so lesen, daß ihnen dabei klar wird, wie es sein bzw. nicht sein soll. In der Belegschaft hatte sich, leider, manches grundlegend geändert. Von dem allen war besonders schade, daß der Senior, unser Senior Werner Brölsch, fehl- te. Werner [war] noch zunächst in seiner Garnison in Herford, um dann Anfang Juli wieder an der Ostfront im mittleren Frontabschnitt bei Rschew 20 eingesetzt zu werden. Das Amt des Seniors bekam Hans-Baldung Greiner übertragen, der sich aber leider für andere Dinge mehr interessierte, als für das Wohl und den Zusammenhalt der Hausgemeinschaft. Da wir keinen Theologen im Hause hat- ten und der Senior es für richtiger hielt, auf Morgenandachten zu verzichten, fanden solche nicht mehr statt. Ich bedaure das umso mehr, als gerade das unter die Gemeinschaft unter das Wort Gottes Stellen alle jungen Menschen brau- chen, sie mögen es zugeben oder nicht. Ich verweise in diesem Zusammenhang noch besonders auf die letzten Sätze meines Berichtes über das Wintersemester 1941/42.Diese äußere und vor allem innere Haltung ist und bleibt der Sinn und Zweck dieses Hauses. Deshalb möchte ich an dieser Stelle nochmals mei- ner Hoffnung Ausdruck geben, daß in Zukunft wieder ein Reformiertes Stu- dienhaus erstehen möge, das nicht nur von seiner Kirche gestützt, sondern selbst vor allem seiner Kirche durch aktive Beteiligung an ihrer evangelischen Gemeindearbeit eine zuverlässige Stütze werde. Das Semester begann mit gemeinsamem Theaterbesuch in Hans Hömbergs »Kirschen für Rom«, wo uns Staatsschauspieler E.F.Fürbringer aus München sehr ergötzte. Anschließend wurde im »Schwarzen Bären« Brüderschaft getrun- ken. Singend zog zu später Stunde die Corona über die Wälle nach Hause. Am 1. Mai um 0.00 Uhr brachten wir unserem Pastor Kamlah, nachdem wir alle Hindernisse der pfarrhäuslichen Gartenmauer siegreich bezwungen hat- ten, in seinem Garten auf der Terasse ein Maiständchen, bei dem sich beinahe der Gesang in allgemeine Heiterkeit aufgelöst hätte, hätten nicht einzelne unbe- 1941/42 49 49 20 Stadt im Gebiet Kalinin an der Wolga, im 2. Weltkrieg heftig umkämpft. irrtihre Stimmen durchgehalten und somit den Gesang gerettet. Als Auftakt wurde der Kanon »Wacht auf ihr faulen Schläfer« und anschließend der schö- ne Mai, der angeblich gekommen sei, gesungen. Das Wetter war allerdings alles andere als maimäßig, es war kalt und es rieselte leise der heißgeliebte Göttin- ger Landregen. Am 18. Mai 1942 stieg das erste und letzte kleine Hausfest, das gut vorbe- reitet war und dementsprechend auch sehr harmonisch verlief. Unser lieber Stifts- vater hatte für Wein gesorgt, konnte aber leider nicht mit dabei sein, da eine unaufschiebbare Dienstreise ihn fernhielt. Anwesend waren sechs Paare, die feh- lenden drei Damen waren eingeladen worden: Gerd, Traude Moebius; Werner, Elf; Baldung, Gisela; Heinz, Uschi; Hänschen, Marlene; Otto, Eki. Zum Anfang wurde ein nettes nach einem Volkslied geschaffenes Schattenspiel geboten und später dann getanzt. Frau Schulz hatte eine vorzügliche Maibowle aus dem Wein gebraut und etwas zum Knabbern gebacken, was natürlich beides großen Bei- fall erntete. Zuletzt sei noch auf die unvermeidliche gemeinsame Aufnahme ver- wiesen, die zu später Nachtstunde entstand. Dieser nette Abend blieb, obwohl das Semester erst begonnen hatte, die erste und letzte gemeinsame Veranstal- tung des Studienhauses. Am Vortage machte ein großer Teil der Corona einen Kirmesausflug nach Weende, wo vor allem das Kettenkarussel die Allgemeinheit lebhaft interessierte. Hier entstanden auch einige Bilder, mit denen sonst das Semester nicht so sehr reich gesegnet war. Das umstehende Bild zeigt alle Beteiligten außer Otto, der die vom Rummelplatz heimziehende Corona von seinem fahrenden Rade aus als Reformiertes Studienhaus-Propagandakompanie-Mann aufnahm. Der Spaß endete dann damit, daß Uschi in Familie Berys Kinderwagen landete. Neben- stehendes Bild zeigt diese Begebenheit. 50 Chronik des Reformierten Studienhauses Vonnun an fanden nur noch Teilveranstaltungen statt, die sich aber mei- stens zu sehr netten Stunden gestalteten. Ich denke da z.B.an die Feier anläß- lich des von Hänschen siegreich bestandenen Examens (1.Juli 1942), wo sich nach und nach in Heinz Wietings Bude eine fröhliche Runde zum Eierlikör (erstklassiges Präparat, von Hänschen hergestellt und gestiftet) zusammenfand. Gerd war gerade wenige Stunden zuvor zum Feldwebel befördert worden, so daß dieses Ereignis sofort in würdiger Form mitgefeiert werden konnte. Außer ihm und Hänschen saßen Heinz, Werner, Otto, Uschi und Traude Moebius in fröhlicher Runde beisammen. Gegen Ende zu später Nachtstunde stiftete Heinz noch zum Abschluß neue Kartoffeln, die er mit Uschi in viel Speck gebraten hatte. Im dritten Kriegsjahre war das eine wunderbare Delikatesse, die dem- entsprechend gebührend gewürdigt wurde. Einiges nicht alltägliche hat sich auch im Hause abgespielt, woran eigent- lich keiner gedacht hatte. Als die Pfingstferien zu Ende gingen, blieb jemand von uns aus: Eki kam nicht. Statt dessen flog sehr bald ein Brieflein aus Itze- hoe ins Haus, und Eki hatte sich verlobt. Und zwar mit dem damals in seiner Garnison weilenden Hans-Werner Gensichen. Mit erheblicher Verspätung kam dann das glückliche Paar im Hause an, wo wir unseren beiden Verlobten von Herzen gratulierten. Nach ein paar sonnigen Tagen mußte dann Hans-Werner wieder wieder zurück nach Itzehoe und rückte kurz darauf zu Generalfeldmarschall Rommel nach Nordafrika ab. Aber damit nicht genug: Noch zwei weitere Herzen zogen einander an und wurden sich sehr schnell einig, ohne daß es jemand so recht bemerkte. Am 20. Juni 1942, an einem Sonnabend, kam wie ein Blitz aus heiterem Him- mel Werner Brölsch angebraust und hatte sich auch schon, ehe es einer begriff, mit Marlene verlobt. Nach ein paar glücklichen Tagen jedoch schlug auch 1942 51 hierdie Trennungsstunde, und Werner zog kurz darauf wieder hinaus nach Rußland. Einen Abend möchte ich zum Abschluß noch erwähnen. Es war der letzte gemeinsame Abend, an dem allerdings die Soldaten fehlten. Otto machte end- lich sein Versprechen wahr, dem Studienhaus » privatissime und gratis « ein Orgel- konzert in St. Marien zu geben. Heinz, Uschi, Marlene, Eki und Otto zogen bei strömendem Regen zur Marienkirche hinaus. In dem stillen, nächtlichen Gotteshaus ließ Otto manches große und schöne Werk von Johann Sebastian Bach und verwandten alten Meistern vor jungen hörenden Menschen erklin- gen, denen die Musik des großen Meisters zu einem wertvollen Besitz gewor- den sein möge, der sie auf ihren ferneren Wegen ihr Leben lang begleiten möge. Dieser Bericht wurde im November 1942 in der Reichshauptstadt in großen kriegerischen, ereignisvollen Tagen geschrieben und am 26. November 1942 abgeschlossen. Gerade in dem Augenblick, wo man dem Studienhaus fernbleiben muß wie eben Otto, der im Winterhalbjahr seinen studentischen Ausgleichs- dienst in Berlin ableistet, fühlt man erst richtig, wie das Studienhaus allen jun- gen Menschen, die ihm einmal angehören, zur Heimat geworden ist, nach der es sie immer wieder zieht. Deshalb wollen wir alle in Dankbarkeit derer zum Schluß gedenken, die das Reformierte Studienhaus erst, uns zum Segen, ermög- licht haben. Wintersemester 1942/43 Wieder Wieder einmal stehe ich vor der ernsten, jedoch nicht hoffnungslosen Aufga- be, den Semesterchronisten abgeben zu müssen. Allem voran möchte ich sagen, daß das, was mein Herr Vor-»schreiber«, der doch etwas sehr dunkel gesehen hat, sich so sehr gewünscht hat, eingetroffen ist: Wir sind wirklich wieder ein »Reformiertes Studienhaus« geworden, eine Hausgemeinschaft, die sich bewußt zu ihrer Kirche bekennt. In diesem Buche ist schon mehrmals vom zweifachen Geist des Hauses die Rede gewesen, und ich brauche wohl nicht zu betonen, daß auch die fröhli- chen Seiten unseres Lebens nicht zu kurz gekommen sind, wenn sie auch auf einer anderen Basis ruhten als etwa vor drei Jahren. Der geneigte Leser wird zunächst mit Entsetzen bemerkt haben, daß in die- sem Semester das weibliche Element zum ersten Male überwiegt. Die Frauen- emanzipation ist geglückt: Der Kampf, den Maria Zimmer einst einsam begann, scheint zu Gunsten der holden Weiblichkeit entschieden und [die] Männer- frage, denn eine solche ist mittlerweile aus der Frauenfrage von einst gewor- den, scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Ferner möge man noch eine Besonderheit dieses Semesters ins Auge fassen, die auch nicht gerade zur Verstärkung des männlichen Einflusses dient. Erst- malig gehörte ein Ehepaar zur Corona. Und da der Ehemann ausgerechnet der 52 Chronik des Reformierten Studienhauses HerrSenior ist, ergibt sich zwangsläufig der Posten der Seniorita. Ich bitte unse- re Mädchen herzlichst um Verzeihung, wenn ich sage: Es war trotzdem ein schö- nes Semester. Warum trotzdem? Nun, als ich im September noch im Kauka- sus saß und von Pastor Kamlah die Nachricht erhielt, daß er sich sehr freuen würde, mich als vierten Mann unter sieben Mädchen, davon noch drei Theo- loginnen, zu begrüßen, vermochte ich mich nur sehr schwer zu fassen und kam mit trübsten Erwartungen hierher. Wer konnte das auch vorausahnen, daß sich diesmal die Richtigen gesucht und gefunden hatten? Zunächst soll einmal von unserer gemeinsamen Semesterarbeit, dem Laien- spiel von den drei Männern im Feuerofen, berichtet werden, das bereits vor Weihnachten geplant war. Wir wollten damit, als mit einer besonderen Art der Wortverkündigung, den pfarrerlosen Gemeinden auf dem Lande zu einem Got- tesdienst verhelfen. Daß wir nur einmal dazu gekommen sind, liegt an der Kürze des Semesters. Aber wenn alles klappt, bleibt ja die Zusammensetzung der Coro- na im nächsten Semester noch ungefähr die gleiche. Zum anderen wollten wir unserer Gemeinde, die uns eigentlich nur von den präsentierten Rechnungen her kannte, zeigen, daß wir auch bereit sind, auf unsere Weise an der Gemein- dearbeit mitzuhelfen. Wir alle hatten zu Anfang wohl kaum oder nur eine gerin- ge Ahnung von den Schwierigkeiten, die sich uns in den Weg stellen würden, denn erst mit der Zeit stellte sich heraus, daß es nicht mit dem leichten Aus- wendiglernen getan war, sondern daß zu einer einheitlichen Spielgestaltung viele Proben nötig waren. Das wäre noch nicht ganz so schlimm gewesen, wenn nicht dauernd Umbesetzungen in den Rollen der drei Männer nötig gewesen wären 1942/43 53 53 undauch die Stärke des Chores nicht immer gleich war. Dann kam uns auch langsam die große Verantwortung, die wir mit der Verkündigung auf uns nah- men, zum Bewußtsein, und es wird mir keiner bestreiten, daß kurz vor der ersten Aufführung keiner ernstlich böse gewesen wäre, wenn alles doch noch an einer letzten Klippe gescheitert wäre. Daß es doch anders kam, ist nicht zuletzt ein Verdienst unseres haushohen Seniors Werner. Als wir uns dann vor sein uner- bittliches: Ihr müßt spielen! gestellt sahen, da tat jeder von uns sein Äußerstes, und als wir am 6. Februar 1943 zum ersten Male in unserer eigenen Gemein- de vor die Öffentlichkeit traten, da war außer einigen technischen Feinheiten nichts mehr gegen unser Spiel zu sagen. Es war wirklich eine Verkündigung und kein Theaterspiel. Wer diesen Gottesdienst miterlebt hat, der weiß, daß auch die Gemeinde von dieser neuen Verkündigungsart beeindruckt war. Wir dür- fen ihr von Herzen dafür danken, daß sie uns für unsere weiteren Spielfahrten eine Kollekte von 205 RM zur Verfügung stellte. Anläßlich dieses Spiels bekam das Haus einen Ehrenbürger, Werner Ruste- berg aus dem Jungenkreis der re . Gemeinde, der trotz aller Schwierigkeiten noch in letzter Minute die dritte Männerrolle übernahm. Durch den Erfolg wurde das moralische Fundament der Spielschar gestärkt und der finanzielle Grundstock gelegt. Gleich nach der ersten Aufführung erfüll- ten wir zwei weitere Angebote. Pastor Kropatschek, der Leiter des »Stillen Och- sen« ( Theologisches Stift), bat uns herzlich darum, auch in seiner Gemeinde zu spielen und Superintendent Gittmeyer wollte uns gern für die Studenten- gemeinde haben. Wir sagten beiden zu, weil wir durch das erste Angebot wirk- lich in eine Landgemeinde kamen. Und daß wir in der Studentengemeinde spiel- ten, war ja klar, weil wir doch selbst dazu gehörten. So zogen wir am 14. Februar 1943 trotz Sturm und Regen auf der Landstra- ße von Hardegsen, Ellierode, dem Kirchdorf von Pastor Kropatscheks Gemein- de zu. Diesmal waren die drei Männerrollen sogar, wie ursprünglich vorgese- hen, besetzt, da der Kommiß Martin Kunze Urlaub erteilt hatte. Außerdem hat- ten wir noch zwei Gäste mit: Kuschmi (Kurt Schmidt, Europa), Werners Duis- burger Freund, und Uschi (Elsmarie Bär), den Lesern dieser Chronik als »Rieb- schen« schen« bekannt. Im Pfarrhaus wurden wir sehr nett aufgenommen, tranken Tee, verzehrten unsere Butterbrote und luden dann durch Hausbesuche die Gemein- de zu unserem Spiel ein. Nach einem ausgezeichneten Mittagessen haute sich jeder aufs Ohr, wobei man die herrlichsten Studien machen konnte. Dann war es urplötzlich Zeit zum Kirchgang, und wir mußten uns sehr beeilen, daß wir noch zur rechten Zeit kamen. Nun merkten wir deutlich die Gefahren der zweiten Aufführung. Das Neue ist vorbei, die Routine ist größer, und so waren wir, zumal durch die recht fröhlich verlaufene Fahrt angeregt, nicht so ganz bei der Sache, wie es wün- schenswert gewesen wäre. Wenn die Wirkung nach außen hin auch gut und besonders der Chor gegen das letzte Mal deutlich besser war, so waren wir inner- 54 Chronik des Reformierten Studienhauses lichnicht so restlos befriedigt. Die Gemeinde, die einem »Theaterspiel in der Kirche« sehr kritisch gegenübergestanden hatte, war sehr angenehm enttäuscht. Zum Schlusse möchte ich das Urteil eines biederen Ellieroders nicht vorenthalten, der von seinem Pastor nach seiner Meinung über unsere Spielgewänder befragt, treuherzig antwortete: »Na, Herr Pastor, wenn die so in Göttingen herumlau- fen, warum sollen sie nicht auch so zu uns in die Kirche kommen dürfen!« Durch diese Ellieroder Erfahrung nicht mehr so selbstsicher, begannen wir mit einer sehr eindringlichen Vorbereitung auf die Jakobikirche, wo wir am 25. [ Februar ] vor die Studentengemeinde treten sollten. Wir wollten nun zum ersten Mal in einer großen Kirche spielen, was hinsichtlich der Sprachtechnik einige Schwierigkeiten hatte. Auch konnten wir von dieser Gemeinde die am meisten kritische Haltung erwarten. Wir gaben wirklich unser Bestes und durften dann aus dem Dank, den man uns für unser Spiel aussprach, mitnehmen, daß es auch den Leuten, die an diesem Abend den Weg in die Jakobikirche gefunden hat- ten, ein wirklicher Gottesdienst gewesen war. Die Kirche war sehr gut besetzt, und die Kollekte dementsprechend, so daß wir nun getrost die etwas kostspie- lige Fahrt nach Kassel unternehmen konnten. Kassel. Den Abschluß unserer Laienspiele bildete eine Fahrt nach Kassel mit dem Spielabend in der Kirchditmolder Gemeinde und dem Spiel in der Advent- skirche. Wie schon gar nicht mehr anders gewohnt, mußten erst einige Umbe- setzungen vorgenommen werden, da Eki bereits nach Hause gefahren war, um ihren Mann zu erwarten. Für Martin Kunze, der wieder eingezogen war, spiel- te Erhard Kamlah. Der Kirchditmolder Abend stand unter einem etwas unglück- 1942/43 55 55 lichenStern, da wir alle von der Fahrt sehr müde waren und außerdem gerade vor dem Gottesdienst von den schweren Angriffen auf unser Ruhrgebiet hör- ten, die unsere Rheinländer sehr stark beunruhigten. Außerdem waren die räum- lichen Verhältnisse vor dem Altar sehr ungünstig für unsere Spielbewegungen. Trotzdem war das Spiel gut, wenn auch die Spielschar nicht ganz so geschlos- sen war wie in der Jakobikirche. Ganz besonders beeindruckte uns, daß im Ver- hältnis sehr viel Jugend im Gottesdienst war, Jungen und Mädchen zwischen 14-18 Jahren, die man in anderen Gemeinden nicht gerade sehr zahlreich trifft. Ein sehr schöner Abschluß war das Spiel in der Adventskirche. Trotz der un- günstigen Zeit war die Kirche gut besetzt. Auch war sie baulich hervorragend geeignet. Es war uns wirklich eine Freude, aus der wir neue Kraft zu weiterer Arbeit schöpfen konnten, wie herzlich sich die Leute bei uns für unser Spiel bedankten. So fand unsere Spielarbeit im Wintersemester ihr Ende. Sie war manchmal nicht leicht, denn bei allem Neuartigen müssen Erfahrungen gesam- melt werden, aber sie legte den Grundstock, auf dem wir im nächsten Seme- ster hoffentlich weiterbauen können. Nun, wenn das Studienhaus schon mal ausfliegt, dann werden Humor und Frohsinn nicht daheim gelassen. Schon in der Bahn ging s los, als Möpschens Vortrag, der eigentlich mehr ein belehrender als humoristischer hätte sein sol- len, stieg. Mops war überhaupt die Heldin der Kasseler Tage. Als geographi- sche Reiseleiterin wurde sie nach allen unmöglichen Sachen gefragt, die sie natür- lich prompt nicht wußte. Es sei ihr aber nicht vergessen, daß sie weder Mühe noch Kosten gescheut hat, um (treu nach Mops) uns in die Geschichte und Sehenswürdigkeiten Kassels einzuführen. Wer mit war, der sieht sie noch heute auf des Wilhelmshöher Schlosses Stufen über die Köpfe der unten versammel- ten Corona hinweg ihren Vortrag halten. Auch hat sie den Schatz der geflü- gelten Worte großer Männer um etliches bereichert: »Der Kasselaner ist freund- lich, verschwiegen ...und vorwiegend evangelisch.«Oder: »Der Habichtswald schwingt sich in sanftem Bogen in die Vorstädte Kassels.«Wer möchte nicht seinen Kindern eine solche Geographielehrerin wünschen? Leider enttäuschte uns das Kasseler Theater dadurch, daß nicht die »Walküre«, auf die wir uns bereits durch klassische und höchst moderne Einführungsvorträge vorbereitet hatten, sondern Dostals »Ungarische Hochzeit« auf dem Spielplan stand. Nun, es war nicht so schlecht, wie einem hätte danach werden können. Jedenfalls wurde dadurch in vielen von uns zum ersten Mal die Sehnsucht nach Wagner- schem Musikdrama erweckt. Ein gutes Abendessen mit gemütlicher Tischrunde im Ratskeller brachte uns wieder in das seelische Gleichgewicht. Am nächsten Morgen [fuhr] dann der ganze Haufen nach Hause. Daß wir als Insassen des Reformierten Studienhauses zur Studentengemeinde gehören, ist klar. Allerdings haben wir es abgelehnt, etwa als Haus in der Stu- dentengemeinde aufzugehen, was von der Studentengemeinde verschiedentlich 56 Chronik des Reformierten Studienhauses angeregtworden war. Das, was die Studentengemeinde dem evangelischen Stu- denten geben will, Gemeinschaft unter dem Wort Gottes, die sich auch noch auf das Zusammenleben erstrecken soll, haben wir durch unser Haus in einem Maße, wie es in der Studentengemeinde gar nicht möglich ist. Es ist wohl verständlich, daß wir, da wir doch dauernd beieinander sind, nicht so sehr das Bedürfnis haben, einen gemeinsamen Sonntag zu verleben, wie etwa Leute, die die Woche hindurch allein auf ihrer Bude hocken, ganz abgesehen davon, daß ein Teil der Sonntage ohnehin für uns durch gemeinsame Veranstaltungen belegt ist. So muß es jedem Einzelnen von uns selbst überlassen bleiben, ob er über die Hausgemeinschaft hinaus noch in der Studentengemeinde mitarbeiten will. Weiterzugehen halte ich im Interesse des Hauses für nicht ratsam. Um so erfreulicher war es, daß wir zum größten Teil doch zu den Bibel- stunden der Studentengemeinde gingen. Ein besonderer Höhepunkt war neben dem Laienspiel in der Studentengemeinde der Nachmittag mit Prof. Hertzberg 21 in Gelliehausen. Bei strahlendem Frühlingswetter zog fast das ganze Haus ins Gartetal. Studenten- und Fahrtenlieder verkürzten den Weg, und so kamen wir im passendsten Moment dort an, nämlich gerade, als der Kuchen serviert wurde. Daß wir vorher bereits einen großmütig gestifteten Honigkuchen ( er war so hart, daß man sich damit Löcher in den Kopf werfen konnte) mühsam zerstückelt und verzehrt hatten, verschwiegen wir bescheiden. Danach hielt Prof. Hertz- berg eine Bibelarbeit über 1. Mose, die die Bedeutung dieses Buches sehr klar erkennen ließ. Die Freizeit schloß mit einer Andacht in der Kirche. Mit der Kleinbahn ging es dann nach Göttingen zurück, wobei Mops vergeblich ihre Mütze suchte, auf der sie selber saß. Zum Schluß noch einige bemerkenswerte Ereignisse des Semesters, die bis- her nicht erwähnt wurden. Da die Corona verhältnismäßig spät vollständig war, hielten wir erst am 15. Dezember unseren Semesterantrittsabend, der mit einer Adventsfeier unter dem Weihnachtsbaum verbunden war. Wir hörten die Weih- nachtsgeschichte, die von Weihnachtsliedern und Flötenspiel unterbrochen wurde. Danach kam die Begrüßungsrede des Stiftsvaters, und dann nach alter Tradition der Weihnachtsmann, der trotz Warenverknappung für jeden eine klei- ne Gabe mitbrachte, die mit einigen Verschen überreicht wurde. Mit gemütli- chem Klönen bei Tee und Plätzchen, die ganz hervorragend schmeckten, durch- setzt mit mancherlei Spielen und Vorführungen, aus denen besonders die »Früh- stückspause stückspause bei Karstadt« und »Wallensteins Tod« herausragten, ging der Abend zu Ende. Bald darauf lichtete sich die Tafelrunde immer mehr, da man allge- mein in Weihnachtsferien fuhr. Was so die eifrigen Leute und die Soldaten wa- ren, die nicht anders konnten, die kamen schon früher wieder und fanden Göt- tingen im weißen Winterkleide. Was lag näher, als rodeln zu gehen, zumal noch 1942/43 57 57 21 Hans Wilhelm Hertzberg (1895-1965), seit 1936 Studiendirektor des Predigerseminars Hofgeismar und seit 1947 Ordinarius für Altes Testament und Palästinakunde an der Uni- versität Kiel. keineVorlesungen waren. Zwei Schlitten waren bald organisiert, wenn auch schon leicht beschädigt. Es waren die Kamlahschen Familienvehikel, auf denen wir schon so manches Mal abwärts geglitten waren. Nach einigen Probefahr- ten am Wall wagten wir uns auf die Schillerwiese, die vollständig vereist war. Zunächst ging es im Geleitzugsystem, doch da wir immer um die Verbin- dungsachsen der Schlitten rotierend abwärts sausten und allermeist schmählich im Schnee endeten, gingen wir zur Einzelfahrt über. Nach einigen gut gelunge- nen Abfahrten machten sich Senior und Seniorita startbereit, sausten in rasen- der Fahrt zu Tal, sprangen phantastisch über die Straße hinweg, krachten auf und ...kamen jeder mit einer Schlittenhälfte bewaffnet wieder oben an. Also Stellungswechsel auf eine weniger anspruchsvolle Bahn. Doch auch hier gelang es unserer enormen Vitalität (da Damen dabei waren, schickt sich der Ausdruck Schwergewicht auch da nicht, wo er evtl. am Platze gewesen wäre), den restli- chen Schlitten am Boden zu zerstören. Ob dieser Untaten war der in den näch- sten Tagen erscheinende Rest der Corona sehr erbost, denn nun war s mit dem Rodeln Essig. Nun, daß man auch auf seiner Erziehungsfläche oder auf den Schuhsohlen ( es fragt sich, was mehr zu empfehlen ist) Hänge überwinden kann, bewies sich am nächsten Sonntag bei unserem Spaziergang nach Nicomonte, zu deutsch: Nikolausberg. Nachdem man sich hinreichend mit Kuchen, Bro- ten und Kaffee gestärkt hatte, tobten, denn anders läßt sich das kaum noch bezeichnen, wir los. Leider kam dann die allgemeine Schneeballschlacht infol- ge der Neutralitätspolitik einzelner Leute nicht in Gang. Nichtsdestoweniger tollte der andere Haufen gewaltig umher. Besonders Maria-Barbara leistete darin Erhebliches. Ohne Rücksicht auf Verluste griff sie jeden an. Es ist natürlich kein Wunder, daß sie dann als allgemeiner Ruhestörer am meisten vorgenommen wurde. Und obwohl sie vollkommen durchnäßt war (diese Feststellung beruht allerdings auf ihren eigenen und nicht auf objektiv nachgeprüften Angaben), behauptete behauptete sie, noch nicht genug zu haben. Ein Zitronenpunsch bei Familie Brölsch wärmte das Volk wieder auf und diente gleichzeitig den Neuankömm- lingen Agnes und Waltraud, alias Mops, zum Debut im Studienhaus. Diese beiden Damen hatten sich schon vor Weihnachten angemeldet, aber kamen erst jetzt. Auf ihre Persönlichkeit einzugehen, muß ich mir versagen. Dafür verweise ich aber auf ihren handgeschriebenen Lebenslauf und auf die Anlagen zur Chronik, worin beide gebührend gewürdigt werden. Kurz vorher hatte sich übrigens noch ein Pärchen masculini generis ins Haus eingeschlichen. Leider wurden die beiden, Martin Kunze und sein Freund Wolfgang Wicke, sehr bald wieder vom Kommiß einkassiert. Martin hatte jedoch das Glück, noch einmal beurlaubt zu werden. Die Zeit, die er dann im Hause verbrachte, reichte hin, sich hier einen gewaltigen Ru und sogar das Hebraicum zu erwerben. Er verstand es nämlich meisterhaft, zu den unmöglichsten Anlässen Feiern zu veranstalten. So haben wir beispielsweise dreimal seinen Abschied gefeiert. Nun, es war trotzdem manchmal recht nett. 58 Chronik des Reformierten Studienhauses Aberauch der Semesterbudenzauber fehlte nicht. Von Kleinigkeiten abgese- hen waren diesmal in der Hauptsache Gerd und Heinz die Leidtragenden (Mop- sens sens Budenzauber and leider erst nach Abschluß dieser Chronik statt, kann daher nicht mehr gebührend gewürdigt werden).Während wir Gerd nur so ziemlich alles auf den Kopf gestellt hatten, wofür er der gesamten Corona die Türen ver- barrikadierte, war es bei Heinz noch doller. Nicht nur, daß alles durcheinander war, man opferte sogar mehrere Kilo Kohlen, um sein Zimmer zu einem Backofen zu machen, legte ihm einen fremden Mann ins Bett, der über seinem BGB und Bierflaschen sanft entschlafen war. Das Gemeinste war ja ohne Zweifel, daß man die Füße seines Schrankes so oben auf diesen setzte, daß es aussah, als ob selbi- ger auf dem Kopfe stünde. Dann erschien man hämisch grinsend und stellte sich auf Heinzens Schimpfen gern zur Verfügung, selbigen Zustand sogleich zu behe- ben. Dann wurde der Schrank unter den Augen und der Assistenz seines Besit- zers wirklich umgedreht. Ja, ja, es gibt schlechte Völker! Daß man seine Bier- flasche mit Wasser gefüllt hatte, bemerkte Heinz erst am Geläster eines Kolle- gen, den er zu einem soliden Trunke eingeladen hatte. Er selbst landete zum guten Schlusse noch in einer Luftschutzbadewanne. Dieser Zauber reihte sich würdig an alle seine Vorgänger an (das kann man wohl sagen). Dem allgemeinen Wunsche nachkommend wurde Ottos Beförderung zum Anlaß genommen, einen Studentenliederabend steigen zu lassen, wobei, obwohl die Teilnehmer zum größten Teil dem weiblichen Geschlechte zurechneten, ganz nette Bierquantitäten konsumiert wurden. Auch hier gab, wie überall in die- sem Semester, der alte Hausgeist den Ton an. Schnell hatte man sich eingesungen und an das Trinken gewöhnt, so daß selbst »Onkel Paul« sich gewiß »wie in alten Tagen« gefühlt hätte, als der Kurfürst Friedrich stieg. Agnes setzte Ekis ruhmreiche Tradition mit einer sehr geistreichen und treffenden Herrenrede fort, wogegen der Vertreter des männlichen Geschlechts zwar einiges einzuwenden, jedoch nichts Grundsätzliches abzuändern vermochte. Eine dolle Singerei auf dem Waageplatz, die vor allem von Dores warmem, gefühlvoll tönendem Organ beherrscht wurde, schloß den Abend ab. Beinahe hätte ich noch ein Ereignis vergessen: Klein Eki wurde in diesem Semester Frau Pastor Gensichen und ziert nun als zweite Frau die Tafelrunde des Studienhauses. Bemerkenswert ist noch, daß ein bisher in dem Maße noch nicht dagewese- ner Hang zur »klassischen Halbbildung« in dem Studienhause auftrat. Dreimal fand sich der größte Teil der Corona zu Literaturabenden zusammen, an denen der Prinz von Homburg und Empedokles mit verteilten Rollen gelesen wur- den. Ferner war ein lustiger Gedichtabend Christian Morgenstern gewidmet. Leider mußten wir mit zunehmendem Semester infolge allgemeinen Zeitman- gels diese Arbeit einstellen. Vielleicht geht s im Sommer. Auch die Musik kam in jeder Weise in diesem Semester voll zur Geltung, das darf ich als Nachbar des Tagesraumes, oder besser gesagt, des Klaviers und 1942/43 59 59 desRadios wohl mit gutem Gewissen behaupten. Die Konzertveranstaltungen fanden bei uns rechten Zuspruch. Ein ganz besonders eindrucksvolles Erlebnis war der gemeinsame Besuch der Hohen Messe in h-moll von J.S.Bach, die die Stadtkantorei in der Johanniskirche zur Aufführung brachte. Da wir uns auch des öfteren im Theater wiederfanden, darf man wohl behaupten, daß es sich lohnen würde, dem Haufen für die nächste Theater- und Konzertsaison zwei bis drei Dauermieten zu stiften. Sommersemester 1943 Am Ende des Wintersemesters waren wir in der Hoffnung auseinandergegangen, uns im Sommer alle wieder zusammenzufinden, außer Gertraud, die nach Erlan- gen mußte, und Heinz, der zum Kommiß kam. Als dann das Sommersemester wirklich begann, sah die Zusammensetzung unseres Hauses doch anders aus, als wir vorher gedacht hatten. Agnes und Mops erschienen einfach nicht wieder. Sie hielten es nicht einmal für nötig, ihre Sachen abzuholen, sondern gaben ver- schiedenen Leuten im Haus die Gelegenheit, sich verdienstlich zu machen durch Koffer und Pakete Packen und Wegschleppen. Allerdings darf es nicht unerwähnt bleiben, daß später jede von ihnen eine großzügige Stiftung für die Kasse des Stu- dienhauses machte, die wieder wie im Winter bei Ingrid in treuen Händen ist. In den Osterferien muß sich die Corona entweder gut erholt oder lobens- werte Vorsätze zur Pünktlichkeit gefaßt haben. Jedenfalls hatte Ingrid in den ersten Wochen des Semesters keine Gelegenheit, mit mahnendem Gesicht die obliga- ten 20 Pf einzukassieren. Auf ihre Beschwerde hin kam das Geschäft langsam in Gang, und in den letzten Wochen hat sie wohl keinen Grund mehr, sich über Ebbe in ihrer Kasse zu beklagen. Vielleicht hat die anfängliche Pünktlichkeit auch noch einen anderen Grund. Ende März saßen wir an Ottos Geburtstag bei Kuchen und Tee zusammen und malten uns aus, wie es im Sommer werden würde. Irm- gard Meyer aus Frankfurt sollte die einzige Neue sein. Die mußte würdig emp- fangen und in den Geist des Hauses eingeweiht werden. Wie das, was da ausge- dacht wurde, sich dann verwirklichte, mag Otto erzählen: Schon lange hatte »die Meyersche« in den Köpfen des Studienhauses herum- gespukt, und wir glaubten, es ihr und unserem ohnehin schon leicht lädierten Ruf schuldig zu sein, einmal so recht als »Reformiertes« Studienhaus aufzutre- ten. Also wurde ein teuflischer Plan ausgeheckt, zu dem sich sogar der Stifts- vater verbündete, indem er die zu diesem Zweck angefertigte Hausordnung durch seine Unterschrift legalisierte. Sie verdient es wirklich, hier auf alle Zei- ten festgehalten zu werden. »Hausordnung« Das Das Das Reformierte Studienhaus dient der Beherbergung bewußt evangelischer Stu- denten und Studentinnen, die ihrer Haltung nach in den Rahmen eines sol- 60 Chronik des Reformierten Studienhauses chenHauses hineinpassen. Wer in die Hausgemeinschaft aufgenommen wird, hat sich der Hausordnung und den Anordnungen des Herrn Seniors unbedingt zu unterwerfen. 1) Um eine Auswahl unter den Bewerbern zu gewährleisten, müssen sich Neuaufgenommene in den ersten 8 Tagen einer Probezeit unterziehen. Es ist erwünscht, daß sie sich in diesen 8 Tagen einige Kenntnisse über die hauptsächlichsten Bekenntnisschriften der ev. Kirche aneignen, da bei den von Zeit zu Zeit stattfindenden Vortragsabenden die Kenntnis dieser Dinge vorausgesetzt wird. Über die endgültige Aufnahme in die Hausgemeinschaft entscheidet der Stiftsvater auf Vorschlag des Seniors. 2) Es wird von den Hausgenossen erwartet, daß sie sich dem Ernst und der Würde des Hauses entsprechend betragen, kleiden und frisieren. 3) Ferner wird ein eifriges Betreiben des Studiums vorausgesetzt, worüber am Ende des Semesters durch Fleißprüfungen in zwei Hauptfächern Re- chenschaft abzulegen ist. 4) Einmal wöchentlich findet fakultätsweise unter Leitung des ältesten Semesters ein Repetitorium des Lehrstoffes der Woche statt, wozu ent- sprechende Vorbereitung erwartet wird. 5) Der Besuch von Lichtspielhäusern und Lokalen ist verpönt. Wertvolle Filme werden vom Herrn Senior angegeben. 6) Das Klavier- und Radiospiel ist nur in der Zeit nach dem Abendessen erlaubt. Man wähle möglichst Stücke, die der allgemeinen Erbauung die- nen. 7) Sonn- und Feiertage werden möglichst gemeinsam verbracht. Für die würdige Ausgestaltung sorgt der Herr Senior. 8) Besuche während der Arbeitszeit sollen tunlichst vermieden werden. Ganz besonders wird auf das Unzulässige des Herrenbesuchs bei Damen und des Damenbesuchs bei Herren hingewiesen. 9) Das Zimmer muß stets sauber und aufgeräumt sein. Etwaiger Bilder- schmuck ist dem Charakter des Hauses anzupassen. 10) Verstöße gegen die Hausordnung ziehen in kleineren Fällen eine Geld- buße, in größeren einen Tadel des Herrn Seniors nach sich. Wer sich in einem Semester drei Tadel zuzieht, wird aus der Hausgemeinschaft aus- geschlossen. Tageslauf: 7.10 Uhr: Beim ersten Gongen ist unverzüglich aufzustehen. Bis zur Andacht ist das Zimmer aufzuräumen und auszufegen. 7.30 Uhr: Andacht und Kaffeetrinken. 8.00-13.00Uhr: Vorlesungen. Hierzu ist dem Herrn Senior baldmöglichst ein Stundenplan einzureichen, damit semester- und fakultätsweise zu Arbeitsstun- den eingeteilt werden kann. 1943 61 13.15Uhr: Mittagessen, bis 15.00 Uhr: Bettruhe, danach bis 18.45 Uhr: Arbeitsstunden. Für Nachmittagsvorlesungen und Kurse ist beim Herrn Senior Urlaub zu holen. 19.15 Uhr: Abendessen. Hierzu wolle man sich bitte umziehen. Ab 20.00 Uhr: Arbeitszeit. 22.30 Uhr wird das Haus abgeschlossen und das Licht gelöscht. Der Stiftsvater (gez.)Kamlah. Die ganze Sache hatte nur den einen Haken, daß Fräulein Meyer, für die die- ses schwere Geschoß gedacht war, nicht wie vorgesehen am Sonntag Abend, an dem sie schon mutterseelenallein ihren schweren Koffer von der Bahn geholt hatte und daher solchen Anschlägen zugänglicher gewesen wäre, sondern erst am Montag Morgen diese Hausordnung fein säuberlich getippt an ihrem Schrank hängen fand. Trotzdem traf sie der Schlag noch hart genug. Selbst- verständlich waren wir auch reformiert gekleidet, vorwiegend dunkel, tragischer Frack, und wer das nicht vermochte, der hatte wenigstens seine Frisur auf stur zurechtgemacht. Otto gelang das sogar so gut, daß man ihm später einstimmig versicherte, so etwas Saublödes wie ihn habe man überhaupt noch nicht gese- hen. Es wurde uns wirklich herzlich schwer, den sturen Ton am Tisch zu wah- ren. Trotzdem gelang es, Irmgard so einzuschüchtern, daß sie überhaupt nicht von ihrem Teller aufsah. Als jedoch Otto erschien und sich stotternd »Hö-Hö- Hövels« Hövels« Hövels« vorstellte und anschließend bedeutende Worte zur Arbeitsstunden- einteilung stotterte, blieb kein Auge tränenleer. Irmgard gab einige Stunden spä- ter auf Pastor Kamlahs Frage, wie ihr denn die Leute gefielen, die köstliche Ant- wort: »Es sind sie noch nicht alle da.« Daß so eine Hausordnung auch auf die Pünktlichkeit günstig wirkte, ist ja durchaus denkbar. Irmgard blieb doch nicht die einzige Neue. Es zog noch Ottos Freund Her- mann Schall ein, der im Winter in Ottos Bett in der Kaserne geschlafen hatte, damit Otto bei uns im Studienhaus wohnen konnte. Und dann wurde auch die Corona noch um ein zweites Ehepaar vermehrt. Eigentlich kann man nur sagen, dreiviertel eines Ehepaars, denn vorläufig wohnt nur Ursel Müller im Haus, während ihr Mann Arnd noch im Theologischen Stift schläft und nur mittags und abends bei uns ißt. Für jeden Studienhausbewohner ist es äußerst lehrreich, in Ursel und Arnd ein Ehepaar mit völlig anderen Sitten als Werner und Marlene zu beobachten. Die Kühle ihres Umgangs beschränkt sich nicht nur auf den Ton, in dem sie miteinander reden, wenn wir dabei sind (das könn- te man ja allenfalls noch vornehme Zurückhaltung nennen), sondern sie haben die absonderliche Gewohnheit, sonntags abwechselnd fortzufahren, einmal sie und einmal er. Der andere bleibt dann friedlich hier und läßt merken, daß ihm 62 Chronik des Reformierten Studienhauses dasnicht nur gar nichts ausmacht, sondern daß ihm das sogar ganz angenehm zu sein scheint. Da aus Werners Studienurlaub leider nichts werden konnte, mußte er Anfang Mai wieder zum Kommiß und kam zum Reichsbahnfahndungsdienst nach Essen. Otto sagte mit Recht, daß man da den Bock zum Gärtner gemacht hat. Zu Marlenes und unserer Freude erlaubte es ihm sein Dienst häufig, für ein oder zwei Tage hierher zu kommen. So konnte er auch bei unserem Seme- steranfangsfest mit dabei sein, das im Waldheim gefeiert wurde. Das Seniorat übernahm Otto, der väterlich über seinen Haufen wachte und auch die Einzelbetreuung so ernst nahm, daß er z.B.den Kranken sein Radio einschaltete und der Dore, die »bäh!«schreiender Weise im Wasser zappelte oder 1943 63 nochnicht einmal das tat, das Schwimmen beibrachte. Für seine Pflicht als Seni- or hielt er es auch, sich gemeinsam mit Eki um die Physikumskandidaten zu kümmern, anspornend oder beruhigend, je nach dem, was gerade nötig war, und sie mit unermüdlicher Geduld über seine Zeit und Kraft hinaus abzuhören. Überhaupt das Physikum! Eigentlich war ja nur Maria-Barbara so weit. Aber im Lauf des Semesters ergab sich für Ingrid und für Marlene die Möglichkeit, noch in diesem Sommer das Vorphysikum zu machen. Da begann dann die große Lernerei. Das ganze Haus geriet mit in Aufregung. Unsere Tischgespräche wandelten sich erheblich. Im vorigen Semester wurden zur Hauptsache unästhe- tische medizinische Definitionen des Puddings versucht und mit Heinz juri- stische Spitzfindigkeiten erörtert. In diesem Semester war man im Banne des Physikums wesentlich gebildeter. Die Mediziner warfen nur so um sich mit ihren medizinischen Fachausdrücken, daß kein vernünftiger Mensch etwas verstehen konnte. Die Theologen drohten schließlich, zur Rache bei Tisch in Zukunft Griechisch zu reden, waren aber zu gutmütig oder zu träge 22 , diese Drohung wahr zu machen. Im Anschluß an die Tischgespräche und die Puddingdefinition des vorigen Semesters muß noch ein trauriges Ereignis vermerkt werden. Eines Tages ist unser geheimnisvoll springender Serviettenring spurlos verschwunden, nachdem er sich von Otto sorgsam gelenkt ein paar Mal heißhungrig in Dores Pudding gestürzt hatte. Das ist ihm anscheinend nicht bekommen. Nun haben wir einen anderen. Aber dem alten trauern wir noch immer nach. Den Physikumsleuten muß noch ein besonderes Lob gespendet werden dafür, daß sie soweit das nur irgend möglich war, an den gemeinsamen Abenden sich nicht ausgeschlossen haben, nicht einmal Marlene, trotz des Bambino. Dieses Lob gilt ebensosehr für Dore, die am Anfang der Semesterferien das Graecum machen wird. Von ihr ist noch ein Kuriosum zu berichten, das der staunenden Mit- und Nachwelt nicht verborgen werden darf: Sie präsentierte sich uns eine zeitlang als Griechisch redendes Wickelkind. Man denke, dies mitten in Deutschland! Daß sich eine so abnorme Erscheinung nicht lange halten konnte, ist ja klar (Eki und Ursel, die das Kind abwechselnd wickelten, obwohl keine Wickelkom- mode zur Verfügung stand, werden wohl froh gewesen sein, als die Bronchitis geheilt war).Daß ein Wickelkind, auch wenn es Griechisch redet, eine etwas sonderbare Rolle spielt im ehrsamen Studienhaus, liegt wohl auf der Hand. Die- ses Wickelkind versöhnte uns aber in seinem erwachsenen Zustand dadurch, daß es bei unseren Andachten den Kantor spielte und auch bei den übrigen Singereien das Klavier bearbeitete. Die Pflege des gemeinsamen Singens gehört zu den Besonderheiten dieses Semesters. So konnten wir unseren Stiftsvater nach der Rückkehr aus seinem 64 Chronik des Reformierten Studienhauses 22 Ergänzung von anderer Hand: »wahrscheinlich aber zu dumm«. Urlaubein Ständchen bringen und auch Ekis Geburtstag festlich dadurch ein- leiten. Den Höhepunkt fand unser Singen aber am Semesterabschlußabend. Eine besondere Liebhaberin von Dores morgendlichem Klavierspiel war Frau Schulz, auf die in unserem Bericht notwendigerweise noch ein Loblied gesun- gen werden muß. Sie hat es in diesem Semester mal wieder fertiggebracht, unter Assistenz von Frau Fischer und Frau Mallary, Ruthchen nicht zu vergessen, all unsere hungrigen Mäuler zu stopfen, wenn das auch der Zeit entsprechend immer schwieriger wurde und besonders das Einkaufen immer mehr Mühe machte. Aber jedes Mal, wenn sie besorgt fragte: »Na, seid er denn auch alle satt jeworden? « , konnten wir ihr beruhigend versichern: » Natürlich, Frau Schulz, wir können überhaupt nicht mehr.«Ein paar Mal sind sogar Reste geblieben. 1943 65 Dashat sie uns ordentlich übel genommen. Allen künftigen Studienhausbe- wohnern sei es darum gesagt: »Laßt nichts übrig, vor allem keine Erbsen!«Zum Lob von Frau Schulz könnte noch vieles geschrieben werden. Zweierlei will ich wenigstens noch erwähnen: 1. Mit welch strahlendem Gesicht sie uns Bratkar- toffeln nachbrachte, auch dann, wenn die erste Portion eigentlich hätte reichen sollen. 2. Mit welcher Fürsorglichkeit sie darauf bedacht war, denen, die abends später kommen mußten, das Essen zu sichern. Zu den rühmlichsten Taten von Frau Schulz gehört aber ihre Mitwirkung an einem Abend, an dem mal wieder alle Geister des Studienhauses los waren. Irm- gards Bett wurde samt ihrem Waschtisch in den Tagesraum befördert, und Frau Schulz machte ein wunderschönes Himmelbett daraus. Dem verschwundenen Bett wurde in Irmgards Zimmer eine Gedenkstätte errichtet mit Blumen und einem Poem von Otto. Was sonst noch an diesem denkwürdigen Abend geschah, z.B.die Suche mit dem Rad von Gerds Brigitte und wie denn Frau Noffke 23 mein- te, die Polizei käme zu ihr (sie muß wohl ein schlechtes Gewissen gehabt haben) und wie Dore Ottos Stöhnen und den Krach hörte, der Irmgard im Tagesraum galt, und nun einen Gespensterbesuch in ihrer Bude erwartete, das alles wird von denen, die dabei waren, nicht so leicht vergessen werden. An dieser Stelle soll der Bericht Ottos vom Budenzauber bei Gisela einge- fügt werden: Der schönste Budenzauber, den ich überhaupt im Hause erlebt habe, war der bei Gisela, die wahrlich schon längst an der Reihe war. Überaus dekorativ wirkte der Mann, den man ihr, um ihren guten Ruf nicht allzusehr zu beein- trächtigen und die Atmosphäre ihrer jungfräulichen Stube nicht zu sehr zu schä- digen, dann doch noch vors Fenster gehängt hatte. Da saß er nun in strahlen- dem Mondenschein und wartete als wohlerzogener junger Mann, bis sie ihn herunterholen würde. Heimtückischerweise stellte man ihr auch noch das Bett auf den Kopf, machte es hübsch einladend zurecht, ohne dabei zu verraten, daß es bei der leisesten Berührung wie ein Kartenhaus zusammenklappte, was denn auch prompt eintrat. Das Ganze wurde durch eine haarscharf auf den Türspalt eingerichtete Wasserkanne gekrönt. Nun wurde aber aus unserer Wohlanstän- digkeit doch ein Verhängnis: Frau Schulz nämlich, den Mann sehen, die Trep- pe heraufeilen und sich an dem Budenzauber zu freuen war eins. Leider hatte sie nicht daran gedacht, daß sie eventuell vor Gisela ankommen könnte, was ihr natürlich sehr zum Nachteil geriet. Wir dürfen aber abschließend feststellen, daß der Guß ihrer guten Laune keinesfalls geschadet hat. Nach solchen Schilderungen wird keiner bezweifeln können, daß der alte Geist des Studienhauses noch lebendig ist. So haben wir dann auch die Ver- bindung mit den »Alten« nicht abreißen lassen, und einige von ihnen fühlten 66 Chronik des Reformierten Studienhauses 23 Friedgard Noffke wohnte im Studienhaus und war Gemeindehelferin in der Ev.-ref. Gemeinde Göttingen. denDrang, die Stätte ihrer einstigen Schandtaten mal wieder aufzusuchen. Das waren: Gerd Brandt, Otto Klingelhöffer, Martin Kunze und Adolf Kraushaupt, der mit seiner Braut einen ganzen Abend bei uns war und alte Zeiten wieder lebendig werden ließ. Heinz ist übrigens auch wieder im Lande, d.h.er lebt in der Kaserne und wird als Rechnungsführer ausgebildet. Das muß eine sehr gemütliche Sache sein. Denn er hat viel Zeit, um zu uns ins Haus zu kommen. Zu einem unserer Leseabende, von denen noch die Rede sein wird, hatten wir Herrn Pastor Harbsmeier 24 eingeladen, um auch die Verbindung mit der alleräl- testen Zeit des Studienhauses aufzunehmen, die noch vor dem Beginn unserer Chronik liegt. Da gerade von den Alten die Rede ist, soll auch nicht vergessen werden, daß bei Hellers im Mai ein zweites Mädelchen angekommen ist. Pfingsten teilte sich die Corona, einige fuhren nach Hause, und was der küm- merliche Rest anstellte, wird Ursel erzählen: Ein trauriger nein, sondern vielmehr ein sehr fröhlicher Rest blieb zu Pfingsten von der Belegschaft des Hauses zurück. Am Sonnabend machte ein Teil von diesen einen anstrengenden Bergaufstieg, nämlich auf die Plesse. Nachträglich mußten wir der Vorsehung danken, daß sie wohlbehalten trotz einiger Abstürze wieder bei uns erschienen sind. Der Pfingstsonntag vereinte uns alle schon früh zu großen Taten. Bei strah- lendem Sonnenschein fuhren wir alle sogar die, deren erste längere Radfahrt es werden sollte mit unseren Rädern Richtung Ludwigstein los. Endlich ein- mal frei von allen Studien, Doktorarbeits-, Examens- und ähnlichen Sorgen! In Witzenhausen erste Station. Nach einigen vergeblichen Versuchen fanden wir sogar ein Lokal, in dem für unsere hungrigen Mägen gesorgt wurde. Der Lud- wigstein selbst brachte uns Enttäuschung. Wir durften nur bis zur Mauer vordrin- gen und uns am Exerzieren der Jungenmannschaft des Wehrertüchtigungslagers begeistern. Dafür lockten uns dann die Werrawiesen umso mehr. Auf einer Decke brüderlich vereint, Kopf auf Bauch, lagen wir und versuchten, unseren Nach- mittagsschlaf zu halten, der aber immer wieder durch neue Erschütterungen aller- seits gestört wurde. Außerdem trat noch ein schreckliches Ereignis ein: Das Auge des Gesetzes hatte einen Blick auf uns geworfen. Drüben am anderen Ufer ging s am Arm seiner Frau auf und ab. Selbst diese deutete durch ihr Fingerzeigen deut- lich ihre Mißbilligung über unser sittenloses Benehmen mit. Müssen wir nicht gerade über diese Straße, wenn wir uns einen großen Umweg ersparen wollen? Otto und Arnd sind für männlich entschlossenes Vorgehen, aber der weibliche Teil ist mehr für den Umweg. Der männliche Geist siegt: Mutig und sittsam fahren wir brav einer hinter dem anderen an dem gefürchteten dicken Grün- rock vorbei, und nichts, aber auch nichts geschieht. 1943 67 24 Götz Harbsmeier (1910-1979), 1936 Pastor in Wilhelmshaven, 1943 Pastor in Reif- fenhausen, 1952 Ordinarius an der Pädagogischen Hochschule Lüneburg und 1962 Ordi- narius für Praktische Theologie an der Universität Göttingen. Am2. Pfingsttag wurde der Weg zur Kirche genommen, in der Herr Pastor Müller predigte. Nach gemeinsamem Mittagessen im Deutschen Hof führten unsere Räder uns ins Bremker Tal. Gerade hatten wir einen schönen Steinbruch als Raststätte ausfindig gemacht, da überraschte uns ein wolkenbruchartiger Regen. Doch unsere gute Laune konnte er nicht vertreiben. Dicht unter eine überhängende Felswand gehockt, haben wir gesungen, gelesen und nicht zu vergessen Mengen an Kuchen verspeist. Kurz ehe wir gingen, entdeckten wir im Moos ein Nest mit fünf kleinen Grasmücken. Der Regen hatte sich so über unsere Nichtachtung geärgert, daß er sich schließlich verzogen hatte und uns trocken nach Hause kommen ließ. Auf diesem Heimwege wurde ein bedeu- tendes Bündnis geschlossen: Die Achse später zum Dreierpakt erweitert ent- stand als Schutz- und Trutzbündnis gegen die holde Weiblichkeit. Zu Haus wal- tete unsere Hausmutter Dore wieder sorglich ihres Amtes und machte wie im- mer in diesen Tagen all ihre hungrigen Mäuler satt. Noch heute bewahren wir ihr derhalben ein rühmendes Angedenken! Zu diesem Bericht kann sich die Chronistin eine Anmerkung nicht ver- kneifen, nämlich: Einen besseren Beweis ihrer Schwäche als dieses Achsenbünd- nis konnte die werte Männlichkeit unseres Hauses wohl wirklich nicht geben. Wenn so etwas nötig ist, muß es ja schon schlimm gekommen sein. Im übri- gen ist der Abschluß des Paktes ihre einzige Heldentat geblieben, auf die weite- ren warten wir noch. Und wir d. h. die Frauen sind stark genug, dies in Gelas- senheit zu tun. Sollte da jemand sein, der immer noch nicht an unsere Über- legenheit glauben will, dem sei gesagt, daß wir nun auch eine der letzten Posi- tionen den Männern entrissen haben: Die Feder des Chronisten wird in die- sem Semester von einem Mädchen geführt. Die Mühen des Senioramtes dage- gen überlassen wir gern den paar harmlosen Männern, die übrig geblieben sind. Damit mögen die sich plagen, das ist ganz recht so. Daß über all dem vergnügten Treiben die Arbeit nicht vernachlässigt wurde, beweisen allein schon die vier Examina und Dores, Ekis und Irmgards Fleißprü- fungen. Im übrigen aber ist das ja, wie schon früher, nur die eine Seite unseres Lebens im Studienhaus. Um dieses Bild zu ergänzen, ist vor allem zu sagen, daß der Hang zur klas- sischen Halbbildung, von dem im letzten Semesterbericht die Rede war, immer stärker wurde trotz der Examina und obwohl der Sommer für so etwas doch meist weniger günstig ist. So haben wir an zwei Abenden mit verteilten Rollen Shakespeares »King Lear« gelesen, ein andermal ebenfalls an zwei Abenden trotz verschiedener äußerer Hindernisse den »Tasso« und schließlich Hebbels »Gyges und und sein Ring«.Außerdem hatten wir eine kleine Feierstunde, die Hölderlin gewidmet war aus Anlaß seines 100. Todestages. Wie beherrschend dieser Drang gewesen ist, zeigt sich so ganz aber nun erst am Ende des Semesters. Zum ersten Mal steht unser Abschiedsabend im Zei- chen eines Dichters. Nicht zufällig ist es Matthias Claudius, der Mann, in des- 68 Chronik des Reformierten Studienhauses senWerk die verschiedenen Seiten gerade unseres Lebens im Studienhaus so harmonisch vereinigt sind. Bei ihm finden wir neben der dankbaren Freude an der Natur und dem Sinn für die kleinen heiteren Dinge auch den Ton des Glaubens, von dem wir so gerne möchten, daß er bei uns als in einer christlichen Hausgemeinschaft der Grundton sei. Daß wir wirklich so eine christliche Hausgemeinschaft sein durf- ten, macht uns besonders dankbar und hat uns untereinander wohl mehr und tiefer verbunden als irgendetwas anderes. Es ist fein, wie diese innerste Ver- bundenheit bei allen Fehlern und Unzulänglichkeiten und auch bei den nie zu vermeidenden Spannungen doch uns alle getragen hat. Sichtbar wurde das in den gemeinsamen Andachten, für die wochenweise abwechselnd (wie das schon früher war) immer jemand anders verantwortlich war, der dadurch gezwungen wurde, sich besonders gründlich mit dem Schrifttext auseinanderzusetzen. Gerne hätten wir unsere Laienspielarbeit fortgesetzt, aber dies scheiterte aus verschiedenen Gründen, vor allem an der Gewänderfrage. Zur Studentengemeinde gehörten wir nicht nur gleichsam als gelegentliche Zuschauer, sondern wir fühlten uns als mitverantwortliche Glieder wie das ja selbstverständlich ist für eine Hausgemeinschaft evangelischer Studenten. Das zeigte sich am deutlichsten, als wir an Stelle der ausgefallenen Kurrende eine fünf Mann starke Abordnung nach Sudheim schickten, um zu helfen, die Ehre der Studentengemeinde vor den Sudheimer Bauern zu retten. Daß wir bei den gemeinsamen Sonntagen der Studentengemeinde nicht immer ganz dabei sein konnten, ergibt sich aus der besonderen Art unseres Zusammenwohnens und aus praktischen Gründen. Daß wir dafür in der Studentengemeinde Verständ- nis fanden, freut uns besonders. Als ganz bescheidenen positiven Beitrag zum Leben der Studentengemeinde dürfen wir wohl unsere Mitarbeit an dem Kreis bezeichnen, der mit Pastor Harbsmeier und dann mit Professor Gogarten 25 zusammenkam, um über Fragen zu sprechen, die sich aus dem Thema »Glau- be be und Wissenschaft« ergeben. Wir hatten uns, weil das ja für uns leichter ist als für andere, die einzeln auf ihrer Bude hocken, zwei Abende zusammenge- setzt und die von Pastor Harbsmeier aufgestellten Thesen gründlich durchge- sprochen. Dabei wurde deutlich, daß das nicht um des interessanten Gespräches willen geschah, sondern weil uns diese Fragen wirklich bewegen. Ebenso ist es mit den Gesprächen, die ausgingen von der politischen und der geistigen Lage unseres Volkes und die oft so brennend waren, daß sie stundenlang auf der Trep- pe verhandelt wurden, obgleich eigentlich keiner Zeit dafür hatte. In den letzten Wochen bewegte uns die Brölsch sche Kinder- und Zimmer- frage, aber wir hoffen, daß die sich nun so gelöst hat, daß unsere Gemeinschaft keinen Schaden dadurch leidet. 1943 69 25 Friedrich Gogarten (1887-1967), von 1935 bis zu seiner Emeritierung 1955 Ordinari- us für Systematische Theologie an der Universität Göttingen. Eswird wohl immer so gewesen sein, daß die Studienhäusler am Ende eines Semesters viel Grund hatten zum Danken. Schon daß man nicht alleine irgend- wo in einer ungemütlichen Gaststätte essen muß, sondern sich im Haus, wo man wohnt, an den gedeckten Tisch setzen dar , ist ein großer Vorzug. Dazu kommt jetzt noch, daß man sich nicht abzugeben braucht mit zeit- und kraft- raubenden Einkäufen. Ungleich schwerer als diese äußeren Vorteile wiegt der Segen der Gemeinschaft, die den einzelnen trägt und erzieht. Es ist schon etwas ganz besonderes um so eine Gemeinschaft, in die man sich ohne Vorbehalt ein- fügen kann. Jetzt im Krieg haben wir nun noch mehr Grund zur Dankbarkeit für ein Semester wie das vergangene. Es ist beschämend, in froher Gemeinsam- keit all das zu haben, was so vielen Soldaten draußen fehlt: die Verkündigung des Evangeliums, das Lernen und Arbeiten für den eigenen Beru , die Schätze der Dichtung und der Musik, die sorglose Freude an der Schönheit der Natur, die unbeschwerte Hingabe an heitere Stunden und den fruchtbaren Austausch mit Gleichgesinnten. Auf dem Hintergrund der Not unseres Volkes bekommen diese Dinge ein ganz anderes Gewicht für uns. Wir können uns auf die Dauer nur wirklich an ihnen freuen, wenn wir sie annehmen als Gaben Gottes und sie so verwalten, daß sie Frucht bringen für uns und andere. Unseres Fröhlich- Seins müssen wir uns schämen im Angesicht all des Leides unserer Zeit, wenn wir nicht wissen um die christliche Freude, die nicht an dem Dunklen vorbei- sieht, sondern bestehen kann und darf und soll trotz und in alledem, was uns Angst und Traurigkeit macht. Wintersemester 1943/44 Die Die zunehmende Zeitverknappung macht sich auch diesmal beim Chronik- schreiben bemerkbar. Mehr als sonst ist diesmal die Semesterchronik eine Gemeinschaftsarbeit, aber das Entscheidende bleibt ja, daß die mehr oder weni- ger staunende Nachwelt erfährt, was sich bei uns in diesem Semester zugetra- gen hat, und daraus ermessen kann, ob der alte Geist auch weiterhin wachblieb. Zunächst gibt uns Irmgard einen kleinen Überblick über unsere Festlich- keiten: Wie wohl in jedem Semester, so fehlte es auch in diesem nicht an Feiern. In einer Scharade, die den Begriff »Kaninchenstallbaufachmann« darstellte, trat Otto Klingelhöffer ganz genial hervor. Er spielte die Rolle eines Schwerhöri- gen ausgezeichnet, nur vergaß er das Wort auszusprechen, auf das es ankam. In einer anderen Scharade spielten Maria-Barbara und Arnd ein Liebespaar so realistisch, wie wir es kaum im Film sehen können. Zu diesem künstlerischen Genuß kam dann die »Fox, tönende Wochenschau«.Wir sahen die Befreiung des Duce. Otto Klingelhöffer war als Duce im Schrank eingesperrt und wurde daraus von Fallschirmtruppen befreit, die Otto Hövels darstellte, indem er von einem Stuhl, der auf dem Tisch stand, mit einem geöffneten Regenschirm einen 70 Chronik des Reformierten Studienhauses gewagtenSprung tat. Der Duce fuhr dann im Auto in Form eines Kinderwa- gens durch die jubelnde Volksmenge, die von Dore dargestellt wurde. Un- vergessen bleibt uns auch der Vorbeimarsch der gesamten italienischen Haus- macht vor ihrem Herrn und Gebieter. Die Kavallerie machte einen erheblichen Eindruck. Wer das gesehen hat, weiß, warum man mit solchen Truppen kei- nen Krieg gewinnen kann. In einer einzigartigen Damenrede »schmeichelte« Arnd uns Mädchen. . Dar- auf wurde in einer gegen die Achse gerichteten Herrenrede, die ganz gespen- stisch im dunklen Zimmer von Marianne und Anne in Versform (vor-)gebracht [wurde], [wurde], [wurde], [wurde], geantwortet. Den Achsenpartnern konnte davon beinahe angst und bange werden. Heiß geworden vom vielen Lachen erquickten wir uns am selbstgebrauten, köstlichen Kirschlikör. Dabei hatte sich Otto, der geniale Schnapsbrauer, einen häßlichen Scherz erlaubt. Er schenkte unter feierlichem Zeremoniell zunächst Kirschsaft aus, der, nachdem ihn der Stiftsvater als guten Likör lobte, allgemein bewundert wurde. Peinlich, daß es dann doch keiner war. Aber der Genuß des darauf folgenden wirklichen Likörs tröstete auch die Hereingefallenen. Der alte Studienhäusler Frieder Voget, der gerade hier in Urlaub war, konnte an diesem fröhlichen Abend unter uns weilen. Da das Semester sehr spät angefangen hatte, folgten schon bald die Vorbe- reitungen für die Weihnachtsfeier. An manchem Abend saßen wir zusammen, um die dreistimmigen Weihnachtslieder zu proben. Schöne Weihnachtsge- schichten und -gedichte wurden vorgelesen. Danach trat mit großem Gepol- ter der Weihnachtsmann ins Zimmer, der jedem ein Verslein zu sagen hatte über die Besonderheiten, die sich an ihm im Laufe des Semesters herausge- stellt hatten. Pastor Kamlah bekam zu seiner ungeheueren Freude als Ersatz für sein entlaufenes Kaninchen ein von Marianne gebasteltes Stoffkaninchen. Ein Mordsschlager waren auch Ingrids Knieschoner, die sie beim Fallen vor Strumpfverletzungen schützen sollten. Stellte es sich doch heraus, als es sich der Weihnachtsmann nicht nehmen ließ, ihr diese höchstpersönlich zu verpas- sen, daß es sich unverkennbar um die unteren Teile einer Kommißunterhose handelte. Auch Arnd wurde reichlich bedacht. Allerdings muß ein objektiver Beobachter feststellen, daß sich fast jeder der Hausherren in gleichem Maße um das »Fernrohr zur besseren Betrachtung weiblicher Reize« verdient gemacht hatte. An leiblichen Genüssen fehlte es auch an diesem Abend nicht. Frau Schulz hatte eine Menge Plätzchen gebacken. An einem schön geschmückten Weih- nachtsbaum erfreuten wir uns alle sehr. Die Tradition des vorigen Semesters wurde auf dem Gebiete der kulturellen Veranstaltungen nicht nur fortgesetzt, sondern durch die Ausnutzung des Licht- bildapparates und die Einladung von vortragenden Gästen wesentlich erwei- tert. Dore berichtet darüber: 1943/44 71 71 Diekulturellen Veranstaltungen waren in diesem Semester besonders ver- schiedenartig. Der Tradition folgend lasen wir ein Drama mit verteilten Rol- len, und zwar Shakespeares »Hamlet«.Ein anderer literarischer Abend führte uns in die Welt von Wilhelm Busch. Marianne gab uns eine Einführung und las uns aus seinen Werken vor. Gleichzeitig wurden die entsprechenden Bilder im Lichtbild gezeigt, so daß Wort und Bild, die ja bei Wilhelm Busch untrennbar miteinander verbunden sind, vor uns erstanden. Ein zweiter Lichtbildervortrag wurde von Maria-Barbara gehalten über das Thema »Romanische und gotische Baukunst in Europa«.Lichtbilder von fran- zösischen, spanischen, italienischen und deutschen Kirchen und die Aus- führungen, die Maria-Barbara dazu gab, verschafften uns einen Eindruck von den Baustilen der Romanik und Gotik. Eine besondere Freude war uns das Zusammensein mit Heinz Wietings Freund, dem Intendanten der Werkbühne in Hannover. Er gab uns zunächst einen geschichtlichen Überblick über die Entwicklungsstufen des Theaters, sprach dann über den Alltag des Schauspielers, den sich wohl keiner so reali- stisch vorgestellt hatte, und berichtete schließlich über die Entstehung eines Films, über ungeahnte Schwierigkeiten, die die unscheinbarsten Aufnahmen bereiten, und über die aufregenden Sekunden vor den Großaufnahmen. Zum Schluß machte er mit uns kleine schauspielerische Übungen, wie sie etwa von Anwärtern auf Schauspielschulen in den Aufnahmeprüfungen verlangt werden. Es sollten z.B.einige kleine scheinbar ganz leichte Vorgänge aus dem täglichen Leben dargestellt werden, wo bei uns die Schwierigkeit aufging, natürliche Dinge natürlich darzustellen, wenn man sich beobachtet weiß. Nach diesen Versuchen hatten wir alle den Eindruck, daß es wohl keiner von uns zu einem Filmstar bringen werde. Ganz andersartig war einer der letzten Abende dieses Semesters. Wir hatten Herrn Prof. Weber zu uns gebeten, um mit uns über Probleme zu sprechen, die uns bewegen. Es handelte sich vor allem um die Frage der Spaltung in die einzelnen Konfessionen und um die Zukunft der evangelischen Kirche. Aus- gangspunkt der Diskussion war eine Übersicht von Arnd über die Entwicklung der Kirche von ihrem Ursprung an bis zur Gegenwart. Diese Diskussionsabende sollen im nächsten Semester fortgesetzt werden. Wenn die Chronistin des vorigen Semesters glaubte, daß die Achse, einem tiefen Zusammengehörigkeitsgefühl unserer Hausherren entsprossen, lediglich ein Tischgespräch sei, so war dieser Schluß ein Trugschluß. Schon bald sollte sie ihre Wirksamkeit deutlich werden lassen. Selbstverständlich blieb die Gegen- seite nicht untätig, und so wurde unser Haus oft zum Schauplatz wilder Kämp- fe. Ingrid und Arnd wollen davon singen und sagen: Als wir uns im vorigen Semester zur Achse zusammenschlossen, um den Über- mut der weiblichen Übermacht des Hauses zu dämpfen, wußten wir wohl, daß unser Kampf kein leichter sein würde. Aber jetzt am Ende dieses Semesters kön- 72 Chronik des Reformierten Studienhauses nenwir wohl ruhig mit aller uns zur Verfügung stehenden männlichen Über- heblichkeit behaupten, daß wir diesen Kampf ruhm- und siegreich beendet haben. Zwar ist die holde Weiblichkeit mit Macht in unsere Reihen eingebro- chen und hat unsere stärkste Säule durch zarte Bande in Beschlag genommen. Aber Otto ist uns trotzdem nicht untreu geworden. Er hat es meisterhaft ver- standen, sich durch diese Bande nicht wehrlos machen zu lassen. Dagegen war die Haltung unseres vierten Verbündeten nicht immer ganz einwandfrei. Viel- leicht war Otto zu sehr Kavalier, um nicht doch immer mal wieder dem ver- führerischen Augenblinzeln gewisser Damen zu erliegen. Doch wir nehmen an, daß auch er noch eines Tages von der Notwendigkeit des Zusammenschlusses aller Männer sei es nun in einem Kegelclub oder in einer Achse überzeugt sein wird. Wenn man uns nach unseren Heldentaten fragt, so können wir vor allem auf eine glorreiche Tat hinweisen. Eines Tages fanden alle Damen die Ver- heirateten ausgeschlossen, da wir an sie nicht so schnell ohne allzu nachteilige Folgen herankonnten ihre Betten der Federpfühle beraubt vor. Nach einem entsetzten Erstaunen fiel ihr Verdacht auf die Achse. Aber Otto und Arnd saßen mit ihrem Raub sicher in Ottos Bude. So blieb der aufgeregten Damenherde nichts weiter übrig als vor der Tür der beiden Helden ein jämmerliches Kon- zert zu bieten. Als ihnen das selbst zu langweilig wurde, versuchten sie, die Tür einzudrücken, was ihnen selbst unter Mitwirkung ihrer gewichtigsten Mitglie- der nicht gelang. Und als die Achse dann durch Hermanns Zimmer einen Aus- fall unternahm, war die lärmende Herde derartig erschrocken, daß sie Hals über Kopf die Flucht ergriff. Nachdem aber die Achse so ihre Vorherrschaft großar- tig aller Welt vor Augen geführt hatte, zeigte sie sich großmütig und gab die Beute wieder heraus. Die Weiblichkeit schwor zwar Rache, allerdings richtete sich ihr Zorn vor allem auf den armen Otto. Mit einer geradezu großartigen Gewissenhaftigkeit suchten sie sich eine Nacht aus, in der Otto ganz besonders müde war und sich vorgenommen hatte, morgens auszuschlafen und schon im Voraus 0,50 RM bezahlt hatte. Mitten in der Nacht versammelte sich die Damenwelt vor seiner Kammertür, um ihm ein Ständchen zu bringen. Um ihn zu versöhnen, überreichten sie ihm Rosinen, ganz nebenbei aber versteckten sie währenddessen einige Wecker in seinem Zimmer, mit der schändlichen Absicht, ihn alle Stunde grausam aus Morpheus Armen zu reißen. Zu allem Überfluß wälzten sie dann noch, als er gerade wieder entschlummert war, einen gewaltigen Kürbis auf seinen edlen Leib. So rächte sich das zarte Geschlecht! Nach der alten Parole: Divide et impera! nahmen sie immer nur einen Ach- senpartner jeweils vor. Ihr nächstes Opfer war Hermann. Als er sich eines Abends nach vollbrach- tem schweren Tagewerk zur wohlverdienten Ruhe begeben wollte, fand er sich selbst plötzlich unter den Trümmern seines zusammengebrochenen Bettes wie- der. Er rächte sich zwar, indem er sämtliche Türen der weiblichen Kammern 1943/44 73 73 verriegelte,aber der weitaus größte Teil der Damen bemerkte es nicht einmal, da sie wie gewöhnlich die Zeit verschliefen und von den Vertretern der Achse, die sie nicht an der Arbeit hindern wollten, schon morgens früh wieder befreit worden waren. Einmal allerdings brachte eine solche Gefangensetzung der Achse doch etwas ein. Maria-Barbara hatte sich eines Tages in Ottos Zimmer verirrt und war dort eingesperrt worden. Als es ihr schließlich zu langweilig wurde, verlegte sie sich aufs Bitten und dann aufs Handeln. Dore bot für ihre Freilas- sung 20 Blatt eines gewissen, hinterlistigen Zwecken dienenden Papiers. Da das ungefähr Maria-Barbaras Wert entsprach, wurde der Bitte entsprochen. Leider hinderte Überarbeitung und die erwähnten zarten Bande eine stär- kere Aktivität der Achse, doch steht zu erwarten, daß im Sommer der Kampf um die Macht erfolgreich für die Achse weitergeführt wird. Außerdem wollen wir nicht vergessen, daß dieses Semester manch biederen Studienhäusler, der einst »ohne Moos bei Bier und Wein dem Herrn der Erde glich«, unter das Ehejoch oder zumindest seine Vorstufe gezwungen hat. Auch der gute Adolf Kraushaupt mußte daran glauben. Aus unserer Mitte waren es chro- nologisch geordnet: Marianne, Dore, Irmgard [und] Otto, die den ersten Schritt zur mehr oder weniger schnell folgenden Ehe getan haben. Auch die Zahl der Stiftsenkel wurde um drei vermehrt. Bei Brölschens wurde der Sohn doch eine Tochter. Auch der sagenhafte »Onkel Paul« trat aus der Reihe der bevölkerungs- - politischen Blindgänger aus. Ursel und Arnd bekamen ein kleines Mädchen. An Alten waren bei uns zu Besuch: Frieder Voget, Adolf Kraushaupt, Marle- ne und Werner und häufig der das Göttinger Land schützende Heinz Wieting. Sommersemester 1944 Was ich nach 4½ Jahren vom Sommersemester 1944 noch weiß, soll hier niedergeschrieben werden. Wir waren eine durchaus fröhliche Gesellschaft. Des- halb will ich gerade von dieser Seite des Semesters berichten. Da die »Herren« in in in Anbetracht ihrer Minderheit nicht vorhatten, die »Damen« tonangebend sein zu lassen, gestaltete sich das Leben im Studienhaus sehr »reizvoll«.Das betraf vor allem Otto und Arnd. Jedoch wurden die verschiedenen Budenzauber in Einigkeit ausgeführt. Es gab daran eine stattliche Anzahl, nämlich sechs. Es fing an bei Marianne, die bei Pastor Kamlah wohnte. Dann kam Ingrid dran, die anschließend wochenlang das Käsepapier unter der Tischplatte nicht fand und ihr kostbares Parfüm verspritzen mußte, damit sie es in ihrem Zimmer aushalten konnte. Wir unterließen es aber auch boshafterweise nicht, jedesmal naserümp- fend zu schnüffeln, wenn wir bei ihr waren. Der Budenzauber bei Hildburg bestand hauptsächlich in einer Kanne Wassser, die ihr vom Schrank herunter entgegenkam. Bei Elisabeth dagegen war das Zimmer total leergeräumt. Sie mußte in dieser Nacht auswärts schlafen. Am schönsten war der Budenzauber bei Otto. Er soll hier folgen: 74 Chronik des Reformierten Studienhauses Anneund Otto waren wieder einmal im Kino (was wie immer keiner wissen sollte).Mit Hilfe von Frau Schulz drangen wir in Ottos Zimmer. Dann begann man eifrigst, Ottos Schreibtisch gegen Annes Tisch auszutauschen; eben- so die Schränke, Bücherregale und Waschtische. Dabei fiel den Transporteu- ren einer von Ottos dicken Aktenheftern in die Hände, den einzuschließen er vergessen hatte. Es war allgemein bekannt, daß Otto seine ganze Korrespon- denz und sämtliche Kinobesuche genau registrierte. Ja sogar über jeden seiner Bekannten miteinbezogen natürlich die Insassen des Studienhauses hatte er eine Karteikarte mit Bild, Charakteristik, Erlebnissen mit denselben usw. Nun war uns also die Sammlung über Kinobesuche in die Hände gefallen. Otto hatte fein säuberlich die abgerissenen Kinokarten aufgeklebt, daneben stand das Da- tum und die Begleitung des Besuches, Handlung, Bilder aus Programmen und während der Vorführung selbst geknipste Photos. Das war gefundenes Fressen für die Corona. Sie dekorierte kunstvoll Ottos Wände mit beschrifteten und bebilderten Bogen, vor allem mit den vielen Kuß-Großaufnahmen.Der Anblick war erhebend! Anne und Otto verloren kein Wort, aber ihre verschnupften Mie- nen sprachen Bände. Zu vermerken ist noch, daß Eki in diesem Semester ihr Staatsexamen mit »sehr gut« bestand. Marianne schied aus dem Verein der Jungfern aus und hei- ratete ihren Leutnant (sie heißt jetzt Hammerschmidt).Ottos Geburtstag fei- erten wir feucht-fröhlich mit Wein und Radiomusik auf dem Dach. Das sind so meine Erinnerungen aus diesem Semester. Ich habe es wie gesagt als ein sehr fröhliches in Erinnerung. Die Weiterführung der Chronik in den Nachkriegsjahren ist leider unterblie- ben, weil von den letzten Kriegssemestern, Sommersemester 1944 und Win- tersemester 1945, keine Berichte vorlagen. Um aber die Aufzeichnungen nicht einschlafen zu lassen, soll nun von den ersten 5 Nachkriegssemestern ein Nach- trag gegeben werden, in der Hoffnung, daß sich auch für die noch ausstehen- den Semester dereinst ein Chronist finden werde. Wintersemester 1945/46 Für Für eine allgemeine Charakteristik dieser Semester wird es notwendig sein dar- auf hinzuweisen, daß es das erste Nachkriegssemester war, denn manche Schwie- rigkeiten in der Corona lassen sich nur von hier aus erklären. War es doch im großen und ganzen so, daß die meisten noch zu sehr unter dem Eindruck der Wirren der letzten Kriegsmonate und zeitweise auch der Gefangenschaft stan- den, als daß sie sich hätten reibungslos zu einer geordneten Gemeinschaft zusam- menfinden können. So war es leicht erklärlich, daß sich einzelne Gruppen bil- deten, und dieses wurde auch noch durch den strengen Winter und die Brenn- 1944-1946 75 75 stoffknappheitinsofern gefördert, [als] daß sich je drei oder vier zusammenta- ten, um gemeinsam eine Bude zu heizen und dort zu arbeiten. Hinzu kam wei- ter, daß außer Otto, Adolf, Dieter, Dore und Traude alle im Anfangssemester standen und auf ihr Hebraicum und einige außerdem noch auf ihr Graecum hinarbeiteten. Durch den Winter und die Kriegsgebärden riß die Arbeit für die Corona nicht ab. Das erste, was in Angriff genommen werden mußte, war, die Fenster des Hauses wieder mit den ihnen gebührenden Fensterscheiben zu versehen. Da keine Scheiben käuflich erhältlich waren, war man auf Selbsthilfe angewiesen, und die Scheiben der Kellerfenster, Innentüren und Bilder mußten herhalten. Der vorhandene Bestand an Glühbirnen reichte nicht aus und mußte durch eigene Vorräte ersetzt werden. Das defekte Mobiliar des Hauses verwandelte sich in Wärme und Rauch. Holzaktionen nach Roringen und zum Kerstlingeroder Feld 26 wurden gestartet, ein Hausdienst (Holzhacken, Kartoffelnschälen etc.) wurde eingerichtet. Um der Ernährungslage auszuhelfen, erließ Pastor Kamlah einen Aufruf an die umliegenden Gemeinden ( Weende und Bovenden) zu einer Lebensmittel- spende. Dadurch wurde der größten Not begegnet. Fräulein Finke ( Wilhelm Voget nannte sie in stereotyper Verwechslung von Fauna und Flora »Fräulein Fichte«) Fichte«) hatte als Hausmutter die schwere Aufgabe, die hungrigen Mägen zu füllen und tat dazu ihr Möglichstes. In Anbetracht dieser Tatsache wurden auch ihre Kartoffelschalenplätzchen als Unika in Kauf genommen. Wenn nun auch in diesem Semester gearbeitet wurde wie wohl selten zuvor und hernach, blieb dennoch nicht das Zwerchfell vor erheblichen Erschütte- rungen bewahrt. Wer würde je die von Malte komponierte »Hungersympho- nie« nie« vergessen, die aber ein Torso blieb, weil sich nach den ersten 15 Takten die düsteren Wolken der Ernährungslage ein wenig verzogen. Wer würde die Stunde vergessen, in der Gottlieb uns von seiner neuen Kollegiatenaktivierungs- methode berichtete, bei der man auf audiodicentischem Wege »ungeheuer viel« lernen lernen konnte. Kurt Halwers seinerseits fand die Ausführungen im NT Deutsch 27 durchaus mit seinen Gedanken übereinstimmend und las demgemäß anläßlich einer Morgenandacht ganze drei Seiten aus besagtem Werke vor, währenddes- sen der Kaffee kalt wurde und die Corona auf heißen Kohlen saß. Aber auch an größer angelegten Unternehmen fehlte es nicht. Da war einmal der Budenzauber bei Wolfgang Nauck. Wolfgang bewohnte im 3. Stock das Doppelzimmer links neben der Treppe gegenüber dem Luftbal- lon. Wenn er fortging, schloß er wie alle seine Bude ab. Es blieb nur die Möglichkeit, durch die Verbindungstür vom Nebenzimmer her einzudringen. 76 Chronik des Reformierten Studienhauses 26 Ortschaften östlich bzw. südöstlich von Göttingen. 27 Kommentarreihe zum Neuen Testament, erschienen im Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Wirlegten ihm also eine Dame aufs Sofa, die zwischen dem Gehege der Zähne ihres von Otto entliehenen Totenschädels eine Zigarre hielt. Die Decken- lampe wurde mit einem roten Tuch so umwunden, daß ihr fahler Schein gespen- stisch die Idylle beleuchtete. In einer Ecke verbarg sich ein Grammophonap- parat, und eine von der Abspielvorrichtung ins Nebenzimmer führende Schnur ermöglichte es, zu gegebenem Augenblick schaurigen Jazz erklingen zu lassen. Die Tür wurde mit einem auf Kante gestellten Sessel und einem vollen Koh- leneimer verbarrikadiert. In seinem Schlafzimmer tummelten sich zu selbiger Zeit die sieben Stallhasen von Pastor Kamlah, während im Nebenzimmer die Corona Wolfgangs Ankunft erwartete. Er kam, schloß die Tür auf: Entsetzli- ches Gepolter, die Schallplatte krächzte und die Dame auf dem Sofa rauchte ihre Zigarre. Alles klappte, Wolfgang war begeistert und lud die Corona zum Tee ein. Als sich die Gemüter beruhigt hatten und alle bei dampfenden Glä- sern um den Tisch saßen, sog Dore mit unschuldsvollem Gesicht die Luft viel- sagend ein, schnüffelte, machte Bemerkungen über einen eigenartigen Geruch. Wolfgang, dem solches naturgemäß peinlich sein mußte, wollte für frische Luft sorgen und öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer und sah die Bescherung. Die Hasen waren ausgeschwärmt: Der eine hatte es sich im Bett bequem ge- macht, der andere in der Waschschüssel, der dritte saß auf der Zahnbürste, der vierte na, schweigen wir. Bernhard Mumm kam erst im Dezember, und nach einstimmigem Beschluß sollte er »würdig« empfangen werden. Zum Mittagessen erschien er zum ersten Mal. Die Älteren hatten sich auf älter und die Jüngeren auf jünger zurechtge- macht. Vatermörder und Schusterkragen, Mittelscheitel und Glatze, Bärte und glänzende Jünglingsgesichter wechselten in bunter Folge. Und da keiner eine Ausnahme machte, mußte Bernhard sich für den einzig Vernünftigen halten. Die Klippe der Vorstellung bereitete zwar einige Hindernisse, wurde aber den- noch glücklich umschifft. Fatal wurde es erst bei der Mahlzeit, wo Otto nach- dem Dieter mit stoischer Ruhe den Tischspruch hatte erklingen lassen: »In der Welt ist s dunkel, leuchten müssen wir: du in deiner Ecke, ich in meiner hier!« stotternd um Erlaubnis bat, seine »Di-Di-Diätsuppe« holen zu dürfen und daraufhin mit einem Teller ankam, den drei Löffel wässriger Hafersuppe füll- ten. Gottlieb kam verabredungsgemäß später, hatte sich einen dicken Schal um den Kopf gebunden und markierte Ziegenpeter. » Bultmann! « stellte er sich Bern- hard vor. »Mumm!«erwiderte dieser freundlich. Gottlieb: »Wie?«Bernhard: »Mumm!«Gottlieb: »Ich verstehe nicht!«Bernhard: »Mumm!«Gottlieb: »Ich höre höre immer nur: Mumm!«Es kostete schon Mühe, ernst zu bleiben bei dem Tischgespräch, in welchem man sich mit »Bruder« und »Schwester« anredete und den Film »Die Feuerzangenbowle« als unmoralisch verwar . Daß hin und wieder einer herausplatzte, konnte Bernhard nur als Mangel an Reife ansehen. Zum Schluß ist da noch von einem kleinen Racheakt gegen Wilhelm Voget zu berichten, und der kam so: Wilhelm wohnte die erste Zeit im neuen Pfarr- 1945/46 77 77 hausund mußte sich zu den Mahlzeiten in das Studienhaus bemühen. Wenn jemand außerhalb wohnt, ist er in der Regel pünktlicher als der, der an Ort und Stelle wohnt und sich auf das Gongen verläßt. So konnte es Wilhelm leicht in Brast bringen, wenn einer von den Hausinsassen das Gongen zum Morgen- kaffee verschlief. Dann kam der Tag, an dem Wilhelm die »verheiratete Hilfs- predigerbude« bezog. Am Abend dieses Tages saß Wilhelm in seinem Zimmer und arbeitete, als ihn Siegfried besuchte und während eines ausgedehnten Ge- spräches den Schlüssel zu Wilhelms Schlafzimmer in seine Tasche gleiten ließ. Die Nacht um 3.00 Uhr schrillte bei Adolf der Wecker. Dieser erhob sich und trat leise in Wilhelms Gemächer, schloß dessen Tür von außen zu, klopfte solan- ge, bis er Wilhelm aus Morpheus Armen gerissen hatte und erklärte ihm sarka- stisch, daß es gerade 3.00 Uhr geschlagen habe und er demgemäß noch vier Stunden schlafen könne. Dieses wiederholte sich um 3.15 Uhr, 3.30 Uhr, 3.45 Uhr. Dann begab sich Adolf wieder zu Bett und an seine Stelle trat Elisabeth, die das Werk viertelstündlich weiterführte, und ihr folgten Wilhelm und Sieg- fried. Am Morgen erschien der Senior ganz verkatert, doch erklärte er auf teil- nahmsvolle Fragen, daß er gut und störungslos geschlafen habe. Um auch die allgemeine Bildung zu ihrem Recht kommen zu lassen, lud die Corona Prof. Herlin ein, der uns einen Lichtbildervortrag über chirurgische Fra- gen hielt. In der Adventszeit sahen wir auch Prof. Weber in unserer Mitte und endlich wurde das »Käthchen von Heilbronn« mit verteilten Rollen gelesen. Gegen Ende des Semesters war die Corona zweimal im Auffanglager Friedland zum Hilfsdienst. Das dort herrschende namenlose Flüchtlingselend führte uns den Ernst unseres Studiums besonders eindrücklich vor Augen. Das Semester ging offiziell Mitte Februar zu Ende, doch wurden noch bis in den März hinein Vorlesungen gehalten, um einer Beschlagnahme der Zim- mer während der Semesterferien vorzubeugen. Sommersemester 1946 Es war also jeder durch die Entnazifizierung hindurchgekommen. Wir wurden beköstigt von Fräulein Finke. An ihrer Seite stand unser Faktotum, Frau Krau- se aus Berlin was man ihrem Dialekt entnehmen konnte. Übrigens blieb sie nicht mehr lange, denn: »Ich will mir verbessern!«. Das Semester begann gleich mit »Arbeitsdienst« im »reformierten« Garten 28 . Jeder setzte sich kräftig ein, die einen machten einen Teil der »reformierten« Wiese Wiese Wiese urbar, andere setzten Kartoffeln, die dritten pflanzten Salat und Porree. Auch wurde den ganzen Sommer über der weite Weg dorthin nicht gescheut, wenn gegossen werden mußte. So wurde der schlechten Ernährungslage des Reformierten Studienhauses entgegengearbeitet. 78 Chronik des Reformierten Studienhauses 28 Gartengrundstück der Ev.-.ref.Gemeinde Göttingen Alsbesonderes Ereignis dieses Sommersemesters ist Bernhards und Dieters Reise nach Basel zu verzeichnen, die sie als Vertreter der Göttinger Studenten- gemeinde unternahmen. Mit Interesse hörten wir von ihnen, wie es jenseits der Grenzen aussah. Bernhard fand sich zwar nach seiner Rückkehr aus der Fakul- tät rausgeschmissen, da er am Tag der Kontrolle nicht da war. Doch gelang es ihm, wieder hineinzukommen. Pastor Kamlah war in diesem Semester sehr tätig und brachte es fertig, wie- der in Spiekeroog Freizeiten zu halten. Drei Wochen die Jungen und drei Wo- chen die Mädchen der Gemeinde. Anschließend und das war für uns das Herr- liche durften die erholungsbedürftigen Studenten des Reformierten Studien- hauses 14 Tage sich in Spiekeroog erholen. Bevor ich jedoch diese Zeit beschrei- be, muß noch ein tragischer Vorfall berichtet werden. Frau Noffke und Fritz weilten in Spiekeroog, während wir ihren Bollerwagen benutzten, der wohlverwahrt im Kindergarten eingeschlossen stand. Siegfried war der Held der Tragödie. Er mußte nämlich mit Noffkes Wagen Kartoffeln holen. Er ging ins Geschäft er kam wieder heraus er nahm den Bollerwagen er zog nach Hause nicht ahnend, daß der Wagen ein anderer war. Niemand be- merkte dies außer Noffkes, die einige Tage später heimkehrten. Frau Noffke war einer Ohnmacht nahe. Voller Schrecken ließ sie sofort in Spiekerooganru- fen,wo die Corona bereits weilte: »Wo ist unser Wagen?« Antwort: : »Im Kin- dergarten.« »Nein, das ist ein anderer!«Wo war Fritzens guter Wagen?!Zwar war der verwechselte neuer und besser, doch Familie Noffke grollte der Coro- na, vor allem aber Siegfried. Schließlich löste sich alles zu allgemeiner Befrie- digung, als Fritz eines Tages jemanden auf der Straße mit seinem Wagen antraf. Er wurde eingetauscht, und die Corona konnte aufatmen. Doch durfte Sieg- fried nie wieder etwas von Noffkes entleihen. Ein anderes Ereignis fand ebenfalls vor der Spiekeroogreise statt: Budenzau- ber bei Wilhelm Voget. Der arme Wilhelm! Alle seine Möbel wurden kunstvoll im Schlafzimmer der verheirateten Hilfspredigerwohnung verstaut. Dann zog man den Schüssel der verschlossenen Tür ab und hängte ihn mittels einer Drahtschnur unter der Decke des Wohnzimmers auf, wobei besagter Draht kreuz und quer durchs Zimmer gespannt wurde. Den Anfang desselben zu finden war ein Preis- rätsel. Darunter saß Wilhelms Ebenbild, wunderbar ausgestopft, und tat einen langen Zug aus einem Bierkrug. Sein linker Zeigefinger wies dabei neben sich auf den Boden, wo ein Stoß aufgeschlagener Bücher kreuz und quer verstreut lag. Das oberste zeigte die Überschrift: »Von der Priester Ehe«.Geheimnisvolles Dunkel erhöhte die Schönheit der Szene. Na, Wilhelm wird sich gefreut haben! Und nun Spiekeroog: Herrliches Wetter, rauschende See, Krankenhausver- pflegung wen lockt das nicht? Uns gefiel es herrlich! Baden, am Strand lie- gen, Muscheln suchen, Seehundsjagd es war wunderbar! Fräulein Finke und Frau Gliemeroth versorgten uns. Gut erholt und dankbar dampften wir wie- der ab. Ein herrlicher Semesterschluß! 1946 79 Wintersemester1946/47 Es wird dem Chronisten vom Dienst nicht leicht, für dieses Semester einen Bericht zu schreiben. Denn es liegt in doppelter Hinsicht dunkel vor seinem geistigen Auge. Einmal wegen der langen Zeit, die seitdem verflossen ist. Es ist schwer das müssen alle zugeben, die einmal Säuglinge an den Brüsten einer Alma mater gewesen sind , sich später noch auf Einzelheiten zu besinnen. Was nicht gerade extraordinär unter den Geschehnissen eines Semesters ist, geht bald spurlos im Strome der Lethe unter. Wichtiger aber ist noch der zweite Grund: Es war wirklich ein »obscurum in circulo illustrorum«, dieses Wintersemester 1946/47.Wohl nie in der Geschichte unseres Studienhauses hat man sich unter soviel Widerwärtigkeiten, Schwierigkeiten und Mißerfolgen bemüht, eine Gemeinschaft zu sein im Sinne von Mt. 23,8! 29 In medias res! Es fehlte uns in diesem Semester so ziemlich alles an äußeren Mitteln, um ein reges Leben der Gemeinschaft zu pflegen. Wie wir nachträglich feststellen müssen, war dies ja auch der bisher härteste und kälteste Winter in der Nach- kriegszeit. Die Kälte setzte 14 Tage vor Weihnachten schlagartig ein und hielt sich volle drei Monate hindurch ohne größere Schwankungen. Wir standen dem recht machtlos gegenüber und hatten kaum Mittel der Abhilfe. Solange es noch möglich war, ohne Brennmaterial einen Raum zu bewohnen, haben wir in ge- wohnter Weise im Tagesraum gemeinsam die Mahlzeiten eingenommen und auch sonst soviel Gemeinschaft gehabt, wie in anderen Semestern. Mit zuneh- mender Kälte setzte dann unsere Not ein. Während es uns im vergangenen Win- ter gelungen war, uns in Zimmer Nr. 8 (über dem Tagesraum) kleiner zu set- zen, war das in diesem Semester nicht möglich, weil unser verheirateter Seni- or da schlecht ausziehen konnte. Wohin auch? Das Haus war ja gerappelt voll! Eine Zeit lang, bis zu den Weihnachtsferien, war es noch möglich, durch abwech- selnde Benutzung der größeren Buden die Tischgemeinschaft aufrechtzuerhalten. Nach den Ferien jedoch beschloß man angesichts der zu Ende gehenden Vorrä- te an Lebensmitteln und Brennmaterial, einem jeden freizustellen, wo er sei- nen Mittags- und Abendtisch halten wollte. Die meisten gingen in die Volks- küche in der Geiststraße, andere schafften es, bei der Mensa am Wilhelmsplatz unterzukommen. Auch die Heizung der Stuben machte bei den geringen Kon- tingenten immer größere Schwierigkeiten und war meistens nur stundenweise durchzuführen. Die Folge davon war ein Einfrieren sämtlicher Wasser- und Ka- nalisationsleitungen. Unter diesen Umständen sehnten wir das Ende des Seme- sters herbei und waren heilfroh, als es endlich kam. Ansonsten sei doch wenigstens noch ein frohes Ereignis aus dieser Zeit der Schwierigkeiten berichtet: Im Januar erhielt die Hausgemeinschaft Zuwachs durch zwei stud. vitae im ersten Semester. Sie hießen Christa Bartsch und Justus 80 Chronik des Reformierten Studienhauses 29 Mt. 23,8: »Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder.« Voget.Das gab ein Hallo, als zweimal in einer Woche Sondermeldungen ausge- geben werden konnten! Zwischen den Semestern hatte Irmgard Hövels einem Jungen, Christoph, das Leben geschenkt. Bald »flatterten« in allen Ecken des Hauses »Friedensfahnen!«Chronista hofft, daß diese akademischen Neubürger inzwischen mit dem Studium der hebräischen Sprache begonnen haben! Sommersemester 1947 Dieses Semester sollte das der Peripetie genannt werden. Mit ihm begann die Parabel des studienhäuslichen Lebens, die so sehr im vergangenen Semester abgesunken war, sich wieder steil in die Höhe zu erheben gleich dem Phönix, der sich mit kräftigen Schwingen aus der Asche erhebt und nun der Sonne zustrebt. Der Bericht über das vorige Semester zeigt ein wenig von den Schwierigkeiten, die eine volle Haus- und Lebensgemeinschaft so ungeheuer erschwerten. Nun dürfen wir Chronista aber berichten, daß ein rechtes sonniges Sommerse- mester über uns hereinbrach. Nicht nur, daß in diesem Jahr besonders viele Son- nentage zu verzeichnen waren, so daß der Dachboden unseres Heims wie nie sonst zum Sonnenbaden einlud. Auch drinnen unter den Bewohnern war es lichter geworden. Neue Leute brachten neue Gedanken, neues Leben, neuen Schwung in das alte Haus! Da wäre zunächst die neue Hausdame vorzustellen, die nun unserem Ensem- ble vorzustehen begann, Fräulein Ruth Monsehr, ehemals wohnhaft in Ost- preußen, nahe Elbing. Sie löste Fräulein Finke ab, die wieder in den Schuldienst ging, aus dem sie hervorgegangen. Unser Senior Wilhelm Voget wurde bald nach Beginn des Semesters wieder in den Dienst seiner Heimatkirche gerufen, machte mit Bravour sein 2. Examen und residiert nun als Pastor in Mülheim- Ruhr. Sein Nachfolger wurde Friedrich- Wilhelm Esche. Es war ein Arbeitssemester. Man ging hinein, um etwas klüger und erfahre- ner wieder herauszugehen. Prof. Jeremias goldene Regel, zu jedem Semester- beginn neu gesagt: »Nulla dies sine linea«, jeden Tag wenigstens zwei Verse Altes Testament und ein Kapitel Neues Testament übersetzen! stand obenüber. Hof- fentlich aber auch die Regel des alten Biblizisten Bengel, die ja den Introitus zum Nestle-Text 30 30 bildet. Indessen nehme niemand an, wir hätten das Studienhaus in eine Paukbude verwandelt. Dazu war wirklich kein Grund, denn niemand stand im Examen. Man wußte aber vielleicht etwas mehr als die vergangenen Semester davon, daß 1946/47 81 81 30 Dem Vorwort von E. Nestles Novum Testamentum Graece vorangestellt ist folgender Satz von J.A.Bengel: »Te totum applica ad textum: rem totam applica ad te« ( Wende dich ganz dem Text zu, beziehe seinen ganzen Inhalt auf dich); vgl. J.A.Bengel, Novum Testa- mentum Graece manuale (1734), Praefatio. manschon als Student und besonders als stud. theol. in Verantwortung steht, und richtete sich danach. Dem dienten besonders die Abende mit Herrn Professor Weber, der alle 14 Tage bis 3 Wochen in unser Haus kam, um mit uns die mancherlei Fragen, die uns bewegten, durchzusprechen. Er verstand es meisterhaft, uns zur rechten Ant- wort hinzulenken. Niemand von uns kehrte von diesen Ausspracheabenden, an denen auch unser Stiftsvater teilzunehmen pflegte, ohne Bereicherung auf seine Stube zurück. Aber auch die Freuden des Studentenlebens kamen ohne Einschränkung zu ihrer Geltung. Das zeigte sich besonders auf unserer Weserfahrt, die wohl als der Semesterhöhepunkt bezeichnet werden muß. Davon Näheres. Wohlbelastet mit einem Emailleeimer voller Kartoffelsalat mit der nähe- ren Bestimmung, reihum getragen zu werden bestiegen wir an einem Sonn- tag gegen 6 Uhr den Zug und fuhren über Dransfeld nach Hann.-Münden, kurz vor die zerstörte Eisenbahnbrücke. Hartmut spielte Financier und Reise- leiter. Er lancierte uns geschickt durch das Gewirr der Gassen hin zum Damp- feranliegeplatz. Dort war schon alles schwarz vor Menschen. Es wurde einem himmelangst bei dem Gedanken, daß die alle mitsollten. Um halb 8 Uhr begann der Sturm auf diesen Süßwassersonntagskreuzer, nicht ohne daß dabei einige der Gondellustigen sich auf unliebsame Weise ins Wasser gedrängt sahen zum Glück niemand von uns. Der Kapitän schimpfte und drohte, jeden mit seinem Fernglas zu erschlagen, der sich nicht sittsam auf seinen Dampfer zu begeben gedächte. Zu seinem persönlichen Wohlergehen sah er vom »Erschlagen« ab. Sein schwimmendes Hotel wurde voll belegt wie eine Heringstonne. Kein Wun- der, daß er ein paarmal mit seinem Bug die Steine polierte, denn die Weser hatte herzlichwenig Wasser. Wir ließen die schöne Weserlandschaft an uns vorüber- ziehen und stiegen in Bodenfelde aus, um uns dort in einem Restaurant am Kar- toffelsalate zu laben. Dann gingen wir an ein ruhiges Fleckchen am Flusse und kühlten uns in den Fluten. Als allmählich die Zeit zur Rückfahrt gekommen war, zogen wir zum Landungssteg, aber der Dampfer erlaubte sich eine halbe Stun- de Verspätung. Diese erhöhte sich bis zu unserem Endziel Bursfelde 31 auf eine ganze Stunde. Nun galt es noch auf irgendeine Art und Weise den Zug in Drans- feld zu erwischen, 12 km entfernt, in etwa 1 Std. 50 Min.,sonst hätten wir wei- tere 14 km per pedes absolvieren dürfen. Mit langen Schritten und besorgten Blicken auf die Uhr ging es durch den Wald immer bergauf, durch Löwendor bis auf die Höhe von Dransfeld. Man hatte sich auf dem Marsche in zwei Grup- pen, etwa 500 m voneinander entfernt, aufgeteilt. Da! Etwa 1000 m vor dem Bahnhof kam der Zug angefahren. Nun galt es noch einmal alleKraft zusam- 82 Chronik des Reformierten Studienhauses 31 Benediktinerabtei an der Weser, gegründet 1093, in der Reformationszeit evangelisch geworden und in der Säkularisation aufgelöst; der Senior der Göttinger Theologischen Fakul- tät trägt den Titel »Abt von Bursfelde«. menzunehmen,» die Lust und auch den Schmerz « , damit die ersten im Schweins- galopp auf dem Bahnhof wenigstens den Versuch machten, »des Schaffners stei- nern Herz zu rühren«.Ob es wohl die hintere Gruppe noch schaffen würde, Fräulein Monsehr, wahrhaft keine Langstreckenläuferin, Martin mit kriegs- beschädigtem Bein, Hans-Werner mit seiner empfindlichen Lunge? Der Zei- ger der Uhr rückte unerbittlich vorwärts, der Mann mit der roten Mütze zeig- te sichtlich keine Neigung mehr, sich unsere Beteuerungen anzuhören. Da end- lich erschienen sie, waren unter abgestellten Wagen hindurchgeklettert und schwangen sich mit letzter Kraft auf die Puffer und Außenbretter, und heim gings in sausender Fahrt nach Göttingen. Noch im Studienhause der Zug- wind hatte schon manchen Tropfen getrocknet hätte man die Hemden aus- wringen können! Mit Wasser ging man an diesem Abend nicht sparsam um. Gewiß, auf das Ende gesehen eine Strapaze, aber schön war s doch! 1947 83 84 Chronik des Reformierten Studienhauses Wintersemester1962/63 und Sommersemester 1963 Vorbemerkung Bei Aufräumungs- und Wiederherstellungsarbeiten wurde diese Chronik am 30. Juli 1963 nach jahrelangem Verlust von Studenten des Reformierten Studien- hauses wiedergefunden (vgl.2. Kön. 22) 32 . Am 1. August baten die noch im Haus gebliebenen Studenten den scheidenden Inspektor, die Chronik weiter- zuführen. Dieser Auftrag ist nicht zu erfüllen. Es ist unmöglich, über sechzehn Jahre zu berichten, die man nicht miterlebt hat, über die noch nicht einmal ei- nigermaßen vollständige Unterlagen greifbar sind. Es wäre zu fragen, ob man nicht erst nach Errichtung des geplanten Neubaus die Chronik weiterführen sollte, weil damit eben ein ganz deutlicher Abschnitt in der Geschichte des Stu- dienhauses markiert ist. Doch würde das den Verzicht auf die Wahrung der Kon- tinuität im Wandel der Zeiten bedeuten. Da sich hoffentlich im neuen Haus und unter veränderten Umständen wieder ein Reformiertes Studienhaus bil- den wird, dürfte es interessieren, wie wir im alten Haus vor seinem Abbruch gelebt haben. Daß dabei in dieser Chronik ein harter Bruch entsteht, daß sich unmittelbar an die Erinnerungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit die Schil- derung des Lebens in einer Wohlstandsgesellschaft anschließt, läßt sich nicht vermeiden. Daß wir aber auch unter den veränderten Umständen mit ihren Hemmnissen und Möglichkeiten versucht haben, die eine und unwandelbare Aufgabe eines Reformierten Studienhauses wahrzunehmen, wird hoffentlich deutlich werden. Die äußere Struktur des Studienhauses Die äußeren Gegebenheiten im Haus haben sich gegenüber der Zeit der letz- ten Chronisten gründlich verändert. 1. Mit Überraschung stellten wir fest, eine wie dominierende Rolle weib- liche Hausbewohner in der Vergangenheit gespielt haben. Heute sieht das anders aus: die einzigen Personen weiblichen Geschlechts sind Hausmut- ter und Küchenhilfe. Daß keine Kommilitoninnen bei uns wohnen, emp- finden wir nicht als Mangel: einmal weil wir außerhalb und privatissi- me auch innerhalb des Hauses genug von ihnen haben; zum anderen weil wir eben Fräulein Schmidt und Fräulein Bärbel haben. 2. Die Hausbewohner sind ausschließlich Studenten, die im Haupt- oder als Nebenfach Theologie studieren. Das gemeinsame spätere Ziel, der 32 2. Kön. 22 berichtet von der Auffindung des Gesetzbuches im Tempel zur Zeit des König- tums von Josia. Dienstfür Gottes Wort, bildet das eigentliche Zentrum unseres Zusammen- lebens, indem es uns an die gemeinsame theologische Arbeit bindet. Dar- über später mehr. 3. Das Verhältnis zur Reformierten Gemeinde Göttingen ist nicht mehr so unmittelbar, wie es früher gewesen zu sein scheint. Unser Haus wird geleitet von einem Kuratorium, das zweimal jährlich zusammentritt und dem zwei Vertreter des Reformierten Bundes, je ein Vertreter der Lippi- schen Landeskirche und der Ev.-reformiertenKirche in Nordwestdeutsch- land und vier Vertreter der Gemeinde angehören. Beratendes Mitglied und Protokollführer ist der Inspektor. Die beteiligten Kirchen sind für den finan- ziellen Unterhalt des Hauses verantwortlich. Von daher ist es auch zu ver- stehen, daß sie zunächst einmal ihre künftigen Diener am Wort in das Haus aufnehmen. Daß trotz äußerlicher Gebrochenheit des Verhältnisses zur Gemeinde eine enge Verbindung besteht, ist zurückzuführen auf die Tat- sachen, daß a) der Gottesdienst der Gemeinde mit ihren tüchtigen Predigern den Stu- denten räumlich und geistig am nächsten liegt; b) ein Presbyter der Gemeinde, nämlich Professor Otto Weber, Ephorus ist; c) die Pastoren an der homiletischen Arbeitsgemeinschaft und anderen Hausveranstaltungen, z.B.den Hausabenden, teilnehmen; d) der Inspektor zugleich Vikar der Gemeinde ist. 4. Mit der Leitung des Hauses beauftragt das Kuratorium einen Studien- inspektor, der sich im ersten theologischen Examen und durch charakter- liche Eignung seinen Aufgaben entsprechend qualifiziert haben muß. Er ist für die Organisation, für die hausinternen wissenschaftlichen Übun- gen, die Führung der Geschäfte und der Korrespondenz verantwortlich. Seine Hauptaufgabe ist es, die Studenten bei ihrer theologischen Arbeit anzuleiten und zu fördern. Diese Aufgaben kann er nur erfüllen, wenn ihm eine tüchtige Hausmut- ter zur Seite steht, die nicht nur »schmidty« kocht, , sondern auch zu einer guten Atmosphäre im Haus beiträgt. Wie viel Glück man dabei haben kann, wird noch deutlich werden. 5. Eine Hausordnung, auf die alle Studenten verpflichtet werden, haben wir nicht und brauchen wir nicht. Eine so kleine Gemeinschaft von Men- schen, die durch gemeinsame gegenwärtige und künftige Aufgaben ver- bunden sind, besteht und gedeiht am besten ohne Normismus. Die unmit- telbare Bindung an die anderen Hausbewohner muß besser als jede äuße- re Ordnung zur Rücksichtnahme auf den Zimmernachbarn und das gesam- te Haus führen. Falls jemand in vitalen Interessen beschnitten wird, nimmt man sich gegenseitig, notfalls durch den Inspektor, in Zucht. 6. Fast alle Studenten erhalten, je nach Charisma und Wunsch, ein kleines oder größeres Aufgabengebiet. So werden von einem Bücherwart, der auch 86 Chronik des Reformierten Studienhauses Wünscheder Hausbewohner entgegennimmt, dem Inspektor Vorschläge für Bücherkäufe unterbreitet, für Etikettierung und Einordnung der Bücher gesorgt (Wintersemester 1962/63: Christoph Busch; Sommersemester 1963 und Wintersemester 1963/64: Dieter Miege).Ihm steht ein »Büttel« zur Seite, der vor allem die Bibliotheksgebühren von monatlich 0,50 DM »ein- zutreiben« zutreiben« hat ( Wintersemester 1962/63 und Sommersemester 1963: Die- ter Rötterink).Das Ansehen des Zitschministers, der außer viel Bier auch Apfelsaft und Coca Cola umsetzt, steigt besonders in warmen Sommer- monaten (mehrere Semester Helmut Schulten, ab Sommersemester 1963 Ingo Sengebusch).Das Duschgeld verwaltet Ernst Bösch, während Helmut Ballis ( Wintersemester 1962/63) und Detlef Ostkamp (Sommersemester 1963) 1963) das Telefongeld kassierten. Weiterhin sind die Leiter der Arbeitsge- meinschaften, die entsprechend den Wünschen der Studenten gebildet wer- den, zu nennen. Im Winter: Gottfried Beesk (Bibelkunde: Synoptiker); Wolfgang Wolfgang Engels (NT-Kursorik: Teile der Paulusbriefe), Christoph Busch, der sich in einem kleinen Kreis mit Bultmanns Johanneskommentar befaß- te; die hebräische Kursorik (Ursprung und Stellung des Königtums in Isra- el), den lateinisch-dogmatischen Arbeitskreis (Confessio Helvetica poster- ior) und die homiletische Arbeitsgemeinschaft, in der ältere Semester mit den Pastoren Pitsch und Tibbe die Predigttexte der jeweils folgenden Sonn- tage besprechen, leitete Inspektor Keller. Im Sommer 1963 bestanden zwei hebräische Kulektüren [sc.kursorische Lektüren], in denen Genesis- und Jeremiatexte gelesen wurden (Enno Smidt und Theo Schaefer); die neute- stamentliche Kursorik unter Dieter Miege las Acta; der Kreis um Christoph Busch beschäftigte sich mit Werken von Schlier; Wolfgang Engels bemüh- te sich, den Kreis zusammenzutrommeln, der mit ihm neutestamentliche Bibelkunde treiben wollte; die Leitung der homiletischen Arbeitsgemein- schaft, die durch die Teilnahme der Pastoren einen besonderen Akzent bekommt und in solchem Ansehen steht, daß sie in den meisten Lebens- läufen bei Examensmeldungen genannt wird, hatte wieder der Inspektor. Einer der Studenten stellt einen Plan für die Andachten auf, die dienstags, donnerstags und samstags nach dem Abendessen stattfinden, ein anderer ist für die Liste derer verantwortlich, die nach den Mahlzeiten abzutrocknen haben. Die Examenskandidaten haben wir von all diesen Belastungen freigehalten. Da in jedem Semester das Hausfest, das in den Räumen des Kindergartens gefeiert wird, Höhepunkt des »gesellschaftlichen Lebens« ist, trägt der Leiter des Festausschusses eine besondere Last und Würde (im Wintersemester 1962/ 63: Wolfgang Engels, im Sommersemester 1963: Enno Smidt). So hat eigentlich jeder seinen Beitrag zum Funktionieren des Hausbetriebes zu leisten. Gewiß, Drückeberger gab es, wie überall, auch bei uns. Daß es aber nicht nötig war, Gesetzlichkeit und Perfektionismus zu erstreben, liegt einfach daran, daß auch bei nicht regulierbaren Aufgaben immer wieder gern geholfen 1962/63 87 87 88 Chronik des Reformierten Studienhauses wurde (etwa beim Auftauen eingefrorener Rohre).Letztlich waren doch fast alle dabei, wenn sie gefordert wurden, und was bei einigen an Einsatzbereitschaft fehlt, das machen in brüderlicher Weise andere, zum Beispiel Dieter Miege oder »Benjamin« Sengebusch, wieder wett. Kurzer Rückblick Nachdem der Überblick über die äußere Struktur zur Schilderung von Haus- interna geführt hat, muß, so gut es anhand vornehmlich mündlicher Überlie- ferung geht, ein Überblick über Personalia und Ereignisse nach dem Krieg gege- ben werden. Der letzte Chronist wußte schon von Fräulein Ruth Monsehr zu berichten, die aus der Geschichte des Hauses nicht mehr wegzudenken ist. Von 1947 bis zum September 1962 war sie als Hausmutter bei uns. Sie wird besonders bei den Studenten unvergessen bleiben, die in der schweren Zeit nach dem Krieg ihre Fürsorge erfahren haben. In den Zeiten, als man auch für Pferdefleisch dank- bar war, muß sie ihren »Phil-hippern« mit Würde »hippokryphes« Essen berei- tet haben. Als sich die Zeiten wieder besserten, hat sie sich wohl schlecht von der Vergangenheit lösen können. Das gilt im Blick auf ihre persönlichen und wohl auch gar zu engen Einstellungen, die die ostpreußische Gutsbesitzerstochter auf ihrem Lebensweg gewonnen hatte und die die Studenten nicht nachvoll- ziehen konnten, ebenso wie im Blick auf ihre »Küchenpolitik«.Zu der Unzu- friedenheit der Studenten mit einem eintönigen und gar zu billigen Essen kam hinzu, daß die Studenten, die sich ihrer besonders angenommen hatten, das Haus verließen. Außerdem war eine Zeitlang die Hausgemeinschaft durch theo- logische Fraktionskämpfe aufs ernsteste gefährdet oder gar zerstört. Die Aus- einandersetzung zwischen Anhängern Barthscher und Bultmannscher Theolo- gie griff in persönliche Bereiche über und ließ es schließlich so weit kommen, daß Anhänger der einen Partei den Tagesraum verließen, wenn ein »Ketzer« An- dacht hielt. Andere Faktoren werden hinzugekommen sein. Es ist zumal für einen Unbeteiligten äußerst schwierig, Motive für Handlungen zu erhellen; jedenfalls verließ Fräulein Monsehr das Haus, ohne an ihrer langjährigen Wirkungsstät- te noch das geringste Interesse zu bekunden. Die Inspektoren, die während der »Ära Monsehr« das Haus leiteten, sind mei- nes Wissens: Theodor Immer, heute Pastor in Hinte über Emden und für die Schüler- und Jugendarbeit der Ev.-reformiertenKirche in Nordwestdeutschland verant- wortlich; Hans Jochen Pitsch aus Hannover, der viele Jahre, auch noch als Pastor in Göttingen, Inspektor war und auch heute noch an der Arbeit des Hauses leb- haft Anteil nimmt. Seit dem 1. August 1963 fungiert Pastor Pitsch als Vorsit- zender des Kuratoriums; WalterSchneider, der aus Westfalen stammt und heute reformierter Pastor in Hannover ist; während seines Inspektorats wurden umfangreiche Renovie- rungen durchgeführt und Neuanschaffungen getätigt; Dr. theol. Ako Haarbeck aus Wuppertal, jetzt Pfarrer in Dierdorf im Wester- wald und Schwiegersohn »Ottos des Großen« 33 33 ; Wilhelm Buitkamp aus Osnabrück, der zwei Jahre lang bis zum Oktober 1962 Inspektor war und sich der schwierigen theologischen Lage, von der schon gesprochen wurde, gegenübersah. Er ist heute als Pastor in Eddigehausen tätig und dem Studienhaus nach wie vor freundschaftlich verbunden. Der neue »Äon« Mit Mit Mit dem Ende des Sommersemesters 1962 ergab sich für das Haus eine gefähr- liche Lage, da es plötzlich ohne Hausmutter, Inspektor und Küchen- und Putz- hilfen dastand. Es wurde erwogen, ob man das Studienhaus nicht vorläufig bis zum Abbruch des alten und der Errichtung des neuen Gebäudes am glei- chen Ort als ein Wohnheim weiterführen sollte. Dann aber lösten sich die personellen Schwierigkeiten Schlag auf Schlag, und zwar (wie sich bald zeigen sollte) zum Guten. An die Stelle von Fräulein Monsehr trat Fräulein Christa Schmidt aus Hameln mit ihrem ansteckend fröhlichen Lachen und geschick- ter Hand in Küche und Haus. Studieninspektor Wilhelm Buitkamp wurde durch Manfred Keller, geb. 9.11.1937, wohnhaft in Ohl (Bez.Köln), abgelöst, der gerade sein erstes theologisches Examen in Düsseldorf abgelegt hatte. Als Küchenhilfe kam ein Mädchen aus der reformierten Gemeinde zu uns, Bärbel Recke, ein fleißiges, sauberes und anhängliches Mädchen, das mit seiner naiv- offenen Art viel Anlaß zur Heiterkeit gibt. Diese einschneidenden personellen Veränderungen müssen sich stark auf das gemeinsame Leben ausgewirkt haben. Die Studenten sprachen gern im Scherz vom »alten« und vom »neuen Äon«.Doch wie sich das Leben der »heiligen Brü- der von St. Reform« gestaltet hat und was sich an fröhlichen und traurigen Epi- soden ereignet hat, das soll ein neuer Chronist beschreiben. 1962-1963 89 89 33 Ako Haarbeck ( * 1932), später (1980-1996) Landessuperintendent der Lippischen Lan- deskirche, ist der Schwiegersohn von Otto Weber, damals Inhaber des Lehrstuhls für Refor- mierte Theologie an der Universität Göttingen und Ephorus des Reformierten Studienhauses. Anhang1 Denkschrift on Friedrich Wilhelm Bleske-Viëtor und Johann Adam Heilmann om 22. Juni 1914 1 Gründe und Wünsche betr. Errichtung on theologischen Dozentenstellen für die ev.-reformierteKirche an der Universität in Göttingen. I. Seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahr[hunderts] sind sämtliche 10 theologi- schen akademischen Bildungsanstalten der reformierten Kirche in Deutschland auf- gelöst worden. Dies hat zur Folge gehabt: 1) eine Stagnation der wissenschaftlichen Tätigkeit für das Gebiet der theo- logischen Forschung. Zahlreiche historische u [ nd ] systematische Fragen von hoher Bedeutung, die die eformierte Kirche angehen, finden keine Bearbei- tung. Selbst das Calvinjahr, das zuerst einige beachtenswerte Publikatio- nen hervorbrachte, hat nicht die erwarteten wissenschaftlichen E folge ge- zeitigt. Gegenstände der kirchlichen Praxis, in der die eformierte Kirche in früheren Zeiten He vorragendes geleistet hat, we den wissenschaftlich nicht behandelt. Früher erarbeitetes Gut der eformierten Kirche bleibt un- genutzt für die heutige Praxis, obwohl es imstande wäre, noch jetzt in se- gensreicher Weise fortzuwirken. Es ist ein geradezu beschämendes Zu- rückbleiben hinter der lutherischen Theologie auf dem Gebiet der efor- mierten Kirche anzuerkennen! 2) Die Vorbildung der Diener der ev.-ref.Kirche leidet unter dem Wegfall der akademisch theologischen Bildungsanstalten aufs Stärkste. Die Ideale u[nd] Ziele der eformierten Kirche we den nicht gezeigt. In zahlreichen Fällen sind die Studenten ihrer angestammten eformierten Konfession geradezu entfremdet worden, u[nd] wenn sie dann in ihren Dienst ein- treten, so tun sie es vielfach ohne innere Freudigkeit u[nd] wirken in e- formierten Gemeinden oft zerstörend auf kirchliche Anschauungen u[nd] Sitten Sitten Sitten Sitten ein. Ein schreiender Mangel entstand insbesondere durch die Ver- nachlässigung der Katechetik auf eformierter Seite. Die hier vorhandene Literatur genügt auch nicht den bescheidensten Ansprüchen. 3) Die evangelische Gesamtkirche, die auf das Zusammenarbeiten aller aufbauenden Kräfte angewiesen ist, entbehrt der wissenschaftlichen u[nd] 1 Teilnachlaß Heilmann, Plessearchiv Bovenden. praktischenMithilfe der eformierten Kirche. Wieviel von eformierter Seite durch einen einzigen P ofessor geleistet worden ist, beweist das Wi ken des P ofessors Krafft in Erlangen, der nach dem Zeugnis der P ofessoren v. Hof- mann, Stahl u [ nd ] Thomasius den Studenten seiner Zeit, auch den genann- ten, das Beste von dem gegeben hat, was sie besaßen u[nd] später zum Heil der Kirche weitergaben. II. Was geschehen sollte: 1) An Stelle der der ef. Kirche genommenen 5 Universitäten u[nd] 5 Aka- demien erstreben wir die Anstellung theologischer Dozenten in Göttingen. 2) In Göttingen deswegen, weil die eformierte Kirche der P ovinz Han- nover die entsprechende Ausbildung ihrer Diener an der Landesuniversität für erwünscht hält, an die die Stipendien auch für Ostfriesland gebunden sind, u[nd] zweitens, , weil sie durch die Aufhebung der von den Oraniern gegründeten Akademie zu Lingen, die früher von den ostfriesischen Stu- denten besucht wurde, die aber gegen den Willen der Stifter in ein paritäti- sches, hauptsächlich von katholischen Schülern besuchtes Gymnasium ver- wandelt worden ist, eine geschichtliche Be echtigung für die Forderung hat. Der später übliche Gebrauch, Ersatz in G oningen u[nd] Ut echt zu suchen, ist durch sprachliche u[nd] nationale Schwierigkeiten völlig aufge- hoben u[nd] unmöglich gemacht. 3) Die in Göttingen anzustrebenden theologischen Dozenten müßten behan- deln, wenn sie den Bedürfnissen der eformierten Studenten entsprechen sollten: historische, systematische u[nd] praktische Theologie. Sie sollen die wis- senschaftlichen Forschungen auf dem Gebiet der eformierten Kirche anre- gen u[nd] den künftigen Dienern der Kirche eine zweckentsprechende Aus- bildung geben, die sie in den Stand setzt, den Anforderungen des Amtes in eformierten Gemeinden gerecht zu we den. Die eformierte Kirche im gan- zen nördlichen Deutschland blickt sehnsüchtig nach einer solchen akade- mischen Bildungsstätte aus. In mehreren Jahrzehnten des vergangenen Jahr- hunderts ist diese Forderung erhoben u[nd] ve t eten worden, gerade auch für Göttingen. Man hat dann wieder jahrzehntelang im Stillen u[nd] zum Teil mit Bitterkeit die Beeinträchtigung u[nd] Zurücksetzung ertragen, aber die Mißstände fordern zu laut eine Abhilfe, u[nd] die Forderung der Ge ech- tigkeit kann auf die Dauer nicht überhört we den. III. Die Bedenken, die gegen die geplante Einrichtung erhoben werden: 1) Die konfessionelle Spaltung, die bedauerlicherweise die evangelische Kir- che trennt, könnte durch eformierte Dozenten noch tiefer we den; For- derung unserer Zeit ist aber die Einigung aller Kräfte. 92 Chronik des Reformierten Studienhauses Einsolcher unerwünschter E folg kann nicht eintreten, sofern der Geist Christi in den Theologen auf beiden Seiten eine Macht ist. Keiner der bei- den Zweige der evangelischen Kirche sucht dem andern Abbruch zu tun. Der Besitzstand der lutherischen Kirche ist gesichert u [ nd ] kann durch eini- ge eformierte Dozenten nicht in Gefahr gebracht we den. E fahrungsgemäß wird ferner durch persönliches Nahetreten u [ nd ] gemein- sames Arbeiten eine bessere Kenntnis der anderen Seite vermittelt u[nd] we we we we den die verschiedenen Lagern angehörenden Persönlichkeiten einan- der innerlich näher gebracht. Das Beispiel der Fakultät zu Erlangen ist u.a. ein Beweis dafür. 2) Über den Wünschen der Menschen stehen die Tatsachen als Dinge, die den Vorrang haben. Tatsächlich gibt es nun evangelisch-reformierte Landeskir- chen, u[nd] sie können durch den Wunsch nach Einigung der evangeli- schen Kirche nicht aus der Welt geschafft we den. Zwar besteht das Un- echt, das der eformierten Kirche durch den Wegfall ihrer Bildungsstät- ten zugefügt worden ist, schon 100 Jahre. Dank der T eue ihrer Mitglie- der lebt die eformierte Kirche noch in manchen Gebieten, aber sie erhebt jetzt im Namen der Ge echtigkeit u[nd] um ihres Lebens willen die For- derung, daß man ihre künftigen Diener besser vorbilde, als dies bisher ge- schehen ist. Rechtlich ist die eformierte Kirche anerkannt, so kann man ihr etwas nicht weigern, was in allen Kirchen, selbst in kleinen Sekten, als eine G undforderung für den Bestand der Kirche angesehen wird: die zweckentsprechende Ausbildung ihrer Lehrer, ihrer P ediger. Von He zen gönnen wir der lutherischen Schwesterkirche die eiche Mög- lichkeit mannigfaltiger Ausbildung für ihre Theologen, die sie besitzt. In den neuen P ovinzen hat G eifswald etwa im Jahre 1893 durch neue Sat- zungen die Errichtung theologischer Dozentenstellen nur für Lutheraner möglich gemacht. Außerdem stehen der lutherischen Kirche in Deutsch- land noch 2 Universitäten mit wohlausgestatteten theologischen Fakultä- ten zur Ve fügung: Leipzig, Rostock. Demgegenüber erheben wir die be- scheidene Forderung der Bestellung einiger theologischer Dozenten an der Uni- versität der P ovinz Hannove , in der die beiden evangelischen Konfessio- nen getrennt nebeneinander bestehen. Es ist ein Zustand, der schon allzu lange zum Schaden der Kirche getra- gen worden ist, u[nd] wir erkennen nicht, womit die eformierte Kirche, die nach dem U teil von Geschichtskundigen auch ihrerseits Deutschland u[nd] dem p eußischen Königshause viele Segnungen gebracht hat, diese Nichtachtung einer ihrer Lebensbedingungen ve dient hätte. Kein Inter- esse der evangelischen Kirche od[er] des Staates wird durch die erbetene neue Einrichtung verletzt, die lutherische Schwesterkirche soll in keinem ihrer Rechte irgendwie gekränkt we den. Was wir wünschen ist allein dies, daß die eformierte Kirche in den Stand gesetzt we de, ihre Diener wis- Anhang 93 senschaftlichu[nd] praktisch für ihren Be uf zum Heile der Gemeinde Jesu Christi auszubilden. Und dies ist eine Forderung, deren Be echtigung unse- es Erachtens nicht abgestritten we den kann. gez. Bleske-Viëtor Heilmann Heilmann 94 Chronik des Reformierten Studienhauses Anhang2 Kirchliche Nachrichten aus dem Reformierten Bund om Mai 1921 In: Reformierte Kirchenzeitung 71 (1921), S. 130 Ein für die eformirte Kirche Hannovers, ja des ganzen No dwestdeutschlands wichtiges E eignis bedeutet die Einweihung des reformirten Studienhauses in Göt- tingen, die am 7. Mai vor einer Anzahl geladener Gäste stattgefunden hat. Sie war zu gleicher Zeit eine Vorfeier für die Errichtung der reformirten Professur an der alten Georgia-Augusta. Hatte die eformirte Kirche Deutschlands bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts 5 Fakultäten und daneben noch verschiedene Hoch- schulen, so war das alles verloren gegangen; erst in den letzten Jahren war hier und da den eformirten Theologiestudierenden Gelegenheit geboten, sich in Geschichte und Wesensart ihrer Kirche, der sie einst dienen sollten, einführen zu lassen. Es ist dem unermüdlichen St eben des jetzt im Ruhestand lebenden Pfarrers der Göttinger Gemeinde, P. Heilmann, zu danken, daß allen Schwierig- keiten und Enttäuschungen zum T otz jetzt das Ziel erreicht ist, das 1914 und 1918 an den Verhältnissen kurz vor der Ve wirklichung scheiterte. Unter Zustim- mung von Ministerium und Fakultät wird der neue Professor in Kürze berufen we den. Ein fester Glaube und starkes, anhaltendes Gebet sind mit Segen ge- krönt. Bedeutsame Wo te der Begrüßung sprach der derzeitige Rektor der Uni- ersität, der bekannte Kirchengeschichtler D. Mirbt. E begrüßte die Arbeit der eformirten Kirche als eine Be eicherung des Geisteslebens der Universität. Die Oekumenität der eformirten Gemeinden sei für die lutherische Kirche eine we tvolle Ergänzung. Eine andere Gnadengabe unserer Kirche wünschte Super- intendent Mirow, der für die lutherischen Gemeinden Göttingens Grüße über- mittelte, der Kirche Luthers: die Tatkraft des Glaubens, der in der Liebe tätig ist. Die Hoffnung und das Bestreben, daß die Betonung unserer eformirten Art nicht zur Störung der notwendigen Einheitsfront der gläubigen Evangeli- schen führen wird, sondern daß die beiden Schwesterkirchen im gegenseitigen Nehmen und Geben zum Aufbau der Gottesherrschaft auf E den beitragen wol- len, hatte auch P. Heilmann in seiner Ansprache erklingen lassen. Das Haus ist ein lebendiges Denkmal der helfenden Bruderliebe . Das arm gewor- dene Deutschland hat die hohen Kosten es sind bis jetzt schon gegen 100.000 Ma k für Ankauf, Ausbau und Einrichtung des Hauses verwendet worden nicht aufbringen können; fast alles ist durch die Glaubensbrüder in Holland und Amerika gespendet worden. Besonderen Dank ve dient Herr Dr. an Merle in Rotterdam. Es ist zu wünschen, daß echt viele Studenten die gebotene Gelegenheit, in dem Studienhause für den Dienst an den Gemeinden we tvolle Förderung zu finden,benützen; die Glaubensbrüder aber we den gebeten, auch dieses Wer- kes, das aus dem Glauben geschaffen und durch die Liebe ermöglicht ist, in Glauben und Liebe sich annehmen zu wollen. Nießmann/Göttingen 96 Chronik des Reformierten Studienhauses Anhang3 Das reformirte Studienhaus zu Göttingen Von Pastor i.R.Johann Adam Heilmann In: Reformierte Kirchenzeitung 72 (1921), S. 152f. Die Vergangenheit der reformirten Kirche läßt keinen, der sie kennt, schlafen. Sie weckt zur Tat. Aber viel ist zu tun, wenn die ein Jahrhundert hindurch ver- nachlässigte Kirche wieder zu ihrer Bedeutung kommen soll, vor allem auf dem Gebiete des Unterrichts. Im Anfang des 19. Jahrhunderts sind ihr die fünf Uni- ersitäten und die fünf Akademien, die sie besaß, erloren gegangen. So waren auch die im Jahre 1816 an das Königreich Hanno er gefallenen reformirten Gebiete ihrer bisherigen Universität (Lingen) beraubt. Es geschah nicht ohne Wider- spruch. Schon von dem Jahre 1829 rühren die Bemühungen des Pastors der eformirten Gemeinde in Göttingen her, zum Ersatz für das Verlorene an der Landesuniversität Göttingen der eformirten Theologie eine Stätte zu bereiten. Seine Nachfolger haben dasselbe Ziel ve folgt: Konferenzen und Synoden haben bis in die neuste Zeit gebeten und gefordert. Ih e Eingaben verschwanden in den Akten. Erst persönliche Verhandlungen mit den Ministerien, die ich seit acht Jahren zusammen mit meinem Syzygos (Philipper 4,3) Pastor Bleske-Viëtor in in Hinte geführt habe, haben das Ziel nahe gebracht. Es waren große Schwie- rigkeiten, die unserm Beginnen im Wege standen. Langwierige Unterhandlungen mit der Fakultät und den ministeriellen Stellen waren nötig. Mißtrauen mußte überwunden, das nötige Geld beschafft we den. Wir erstreben die Errichtung einer ordentlichen Professur für die systematischen Fächer und einen Lehrauftrag an eine andere Persönlichkeit für die praktische Theologie, besonders die Kate- chetik. Daneben hatten wir den Wunsch, daß auch die Geschichte unserer Kir- che ihren künftigen Dienern bekannt gemacht würde. Wahrlich, keine unbe- scheidenen Forderungen, für jedes selbständige Kirchengebilde einfache Not- wendigkeiten. Im Juni 1914 hatten wir die Zusage des Kultusministers für unsere Wünsche erreicht. Der Krieg machte alles zu schanden. Im Juni 1918 wurde mit dem Mini- ster und seinem Dozenten verabredet, daß am 1. April 1919 nun die Sache ins Leben treten solle. Da warf uns die Revolution wieder alles über den Haufen. Und unsere Wünsche hatten sich inzwischen erweitert. Mitglieder der Fakul- tät meinten, daß die neue Einrichtung viel fester gegründet würde, wenn auch ein Konvikt oder Studienhaus für die reformirten Theologen ermöglicht würde. Neue Schwierigkeiten der Geldbeschaffung für dies We k [und] für das Gehalt des P ofessors erhoben sich, doppelt drückend bei der herrschenden Geldent- we tung und dem allgemeinen Mangel. Allerlei Bemühungen schlugen fehl. Aber meinWahlspruch ist immer das Wort aus dem 18. Psalm gewesen: » belohai ada- leg schur: Mit meinem Gott will ich über die Mauer springen.« Ich unterstreiche dabei die Wo te »mit meinem Gott«.Denn das Ganze soll- te sein und ist ein Werk des Glaubens an den Gott, der Gebete erhört. E hat die Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt, und zwar waren seine Diener dabei unsere Glaubensgenossen, hauptsächlich in Holland und Amerika. Vor zwanzig Jahren hatte in seiner Studienzeit ein holländischer Chemiker Dr. Cornelius an Marle in meinem Hause ve kehrt, und nun erfuhr ich die Wahr- heit des Wo tes Hebr. 13,2: »Gastfrei zu sein, vergesset nicht; denn durch das- selbe haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.«Nach so langer Zeit kam er, um zu sehen, wie es mir nach diesem Kriege ginge. Diesem Freunde legte ich unsere kirchlichen Anliegen vo . Er verstand unsere Not, und mit der Liebe des christlichen Glaubensbruders sammelte er nun in der »Gereformeerde Ke k« Mittel Mittel für uns. Im Juni schon hatte ich soviel Geld, daß ich mutig genug war, ein überaus passend gelegenes Gasthaus für 80.000 Mark zu kaufen, im Stillen daran denkend, daß einst auch A.H.Francke in Halle ein Wi tshaus für sein Liebes- we k gekauft hat. Auch nach Amerika, besonders an die holländischen Gemein- den, wandte sich der eifrige Freund, und von der eformirten Synode des We- stens der Ve einigten Staaten erhielt ich durch den eformirten Bund auch etwa 30.000 Ma k, so daß mir für das Studienhaus bis jetzt 107.000 M[ark] anver- traut worden sind. Wir haben das Haus zum Teil herstellen und für unsere Zwek- ke umbauen müssen große Ausgaben in der jetzigen Zeit. Aber wir haben Raum gewonnen für die Studenten und zwar sind es freundliche, auch mit Bildern geschmückte, größere und kleinere Zimmer. Da Namen mehr sagen wie Zahlen, habe ich die Zimmer benannt, die unteren nach eformirten Län- dern: Ostfriesland, Hessen, Niederlande, Lippe; die oberen nach Männern, die für uns Bedeutung haben: Luther, Melanchthon, Zwingli, Calvin, Olevianus, Tersteegen. Solche Namen sind noch genug im Vorrat vorhanden, aber das Woh- nungsamt hat uns weitere Räume noch nicht zur Ve fügung gestellt. Als das Haus am 7. Mai in schlichter Feier seinem Zweck übergeben wurde, wurden ihm herzliche Wünsche für sein Gedeihen ausgesprochen von dem Rek- tor der Universität, dem Dekan der Fakultät, dem Oberbürgermeister der Stadt, dem Ve t eter des Konsistoriums zu Aurich, einem lutherischen Pastor und brief- lich von Dr. an Marle, und wir können nur bitten, daß das im Glauben begon- nene We k stets in echtem Geiste fortgeführt werde. Geist und Zweck des Ganzen gehen aus seinen »Ordnungen« hervo hervo hervo , in denen es heißt: 1. Das eformirte Studienhaus mit seinen Bestrebungen und Arbei- ten wird unter das Wort des Herrn gestellt: Joh. 15,5. 2. Der Zweck des Studi- enhauses ist, tüchtige und brauchbare Diener der christlichen Gemeinde innerhalb der reformirten Kirche heranbilden zu helfen. Diesem Zweck dienen wissen- schaftliche Uebungen und tägliche Andachten. 5. Von den Stiftsgenossen wird gefordert, daß sie sich in jeder Beziehung bemühen, die Studienzeit zu einer 98 Chronik des Reformierten Studienhauses gesegnetenVorbereitung auf das Amt auszunutzen, und in religiös- sittlichem Ernst und wissenschaftlichem Eifer sich den Aufgaben hinzugeben. 8. Das Zusammen- leben der Stiftsgenossen soll sich nach Röm. 14,19 gestalten. Selbstzucht und edle Sitte sollen von jedem Mitglied erstrebt und geübt we den. Die akademi- sche Freiheit bleibt den Stiftsgenossen gewahrt. Beitritt zu beliebigen Ver- anstaltungen steht ihnen frei. Gewährt wird den Stiftsgenossen vorläufig freie Wohnung, Feuerung und Licht, sofern die Kasse es leisten kann. Verpflegung haben wir noch nicht in diesem Sommer geben können, da wir noch keine Vorräte hatten. Für das nächste Seme- ster ist beabsichtigt, Mittag- und Abendessen zum Selbstkostenpreis zu gewähren. Noch fehlt manches an Ausstattungsgegenständen, und vor allem wünschen wir eine eichere Bibliothek, deren Anfänge allerdings in etwa 150 Büchern von ver- schiedenen Seiten geschenkt sind. Reformirte Pastoren we den gebeten, ihren Bücherbestand daraufhin durchzusehen. Als juristische Form des Bestehens der Anstalt haben wir die der »milden Stif- tung« gewählt gewählt und bei der Staatsbehörde den entsprechenden Antrag gestellt. Im orläufigen Vorstand ist außer mir ein Ve t eter des P esbyteriums der efor- mirten Gemeinde in Göttingen, ein Beauftragter der eformirten Kirche der P ovinz Hannove , ein Schatzmeister und der zu berufende eformirte P ofes- sor. Das Maß unserer Freude wurde voll, als der Dekan die Zustimmung der Fakultät kundgab. So Gott will, wird also der neue Professor mit dem Winterse- mester sein Amt antreten. Alle, die mit uns getrauert, gestrebt und gesorgt haben, mögen jetzt auch mit uns danken und weiterhin bitten. 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