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4. Vom ersten zum zweiten Genfer Aufenthalt
(1536 - 1541)
In Basel lebt Calvin unter einem Pseudonym "Lucianus",
einem Anagramm aus Calvinus. Er arbeitet weiter an einem evangelischen
Katechismus für die französischen Reformierten, und im August
1535 schließt er sein Werk ab; gedruckt liegt es im März 1536
vor. Neben der Abfassung seines Katechismus, den er "Institutio christianae
religionis" (Unterricht in der christlichen Religion) nennt, studiert
er weiter die Bibel, Werke Martin Luthers und Philipp Melanchthons und
auch Martin Bucers. Spätestens hier lernt er hebräisch und liest
auch die Scholastiker; er muss ein ungeheures Arbeitspensum absolviert
haben.
Im April 1536, gleich nachdem seine Institutio erschienen ist, reist Calvin
nach Paris und trifft seine Geschwister wieder. Dann will er weiter nach
Straßburg reisen, wo er Bucer und andere treffen will. Aber: Den
direkten Weg kann Calvin nicht nehmen, weil zwischen König Franz
I. von Frankreich und dem Kaiser Karl wieder einmal Krieg herrscht. Und
so reist er über Lyon und Genf. Das hat Folgen.
Denn in Genf gibt es die berühmte Szene zwischen Wilhelm Farel und
Johannes Calvin. Calvin berichtet selber darüber:
"Der nächste Weg nach Straßburg,
wohin ich mich damals zurückziehen wollte, war durch den Krieg
versperrt. Deshalb gedachte ich hier schnell durchzureisen, ohne mich
länger als eine Nacht in der Stadt aufzuhalten. Dort war das Papsttum
durch den rechtschaffenen Mann, von dem ich schon gesprochen habe [Farel],
und durch Magister Pierre Viret kurz vorher abgeschafft worden. Aber
die Dinge standen noch nicht so, wie sie sein sollten, und es gab unter
den Einwohnern der Stadt böse und gefährliche Spaltungen und
Parteiungen. Damals entdeckte mich ein Man... [du Tillet] und machte
es den anderen bekannt. Daraufhin machte Farel (da er von wunderbarem
Eifer ergriffen war, das Evangelium zu fördern) sofort alle Anstrengungen,
mich zurückzuhalten. Und nachdem er gehört hatte, daß
ich mich für meine privaten Studien frei halten wollte, und als
er sah, daß er durch Bitten nichts erreichen konnte, ging er so
weit, mich zu verfluchen, Gott möge meine Ruhe und meine Studien
verdammen, wenn ich mich in einer so großen Notlage zurückzöge
und meine Hilfe und Beistand versagte. Dieses Wort erschreckte und erschütterte
mich so tief, daß ich auf die unternommene Reise verzichtete;
doch da ich meine Furchtsamkeit und Schüchternheit fühlte,
wollte ich mich keinesfalls dazu verpflichten lassen, ein bestimmtes
Amt zu übernehmen."
(J. Calvin, Vorwort zum Psalmenkommentar,
zitiert nach F. Wendel, 33)
Die
Reformation war 1535 in Genf eingeführt worden und Farel hatte vieles
schon erreicht. Aber da in Genf die Reformation seitens des Rates der
Stadt auch eingeführt worden ist, um die Selbstständigkeit der
Stadt Genf gegenüber den Bischöfen zu betonen, fehlt es der
Reformation an Genf an inhaltlicher Verwurzelung. Die römisch-katholische
Partei ist weiterhin einflussreich, und Farel sah sich allein überfordert.
Und so trifft es sich, dass Calvin in Genf bleibt, und zwar nicht als
Pastor oder Prediger, sondern als "Lektor der Heiligen Schrift an
der Genfer Kirche". Aber schon sehr bald wird er aufgefordert, auch
zu predigen und am Aufbau der Kirche mitzuwirken.
1537 macht Calvin dem Rat der Stadt einen Vorschlag
zur Neuorganisation der Kirche. Darin wird ein Grundzug der Theologie
Calvins deutlich: Es geht ihm immer um die Gestalt der Kirche und also
darum, wie sie lebt. Zwar will er keine exklusive Gemeinschaft der Erwählten
- das war das Konzept der Täufer. Vielmehr versteht Calvin die Kirche
als Gemeinschaft derer, die aus eigenen Stücken dazugehören
wollen. Deshalb setzen er und Farel ein Glaubensbekenntnis auf (Confession
de foí), das von allen Genfern unterschrieben werden soll, "um
festzustellen, wer sich dem Evangelium beipflichten und wer lieber zum
Reich des Papstes als zum Reich Christi gehören will". (Zitiert
nach Wendel, 35)
Außerdem führt er einige weitere Änderungen ein: In den
Gottesdiensten werden Psalmen gesungen - noch heute ein Kennzeichen reformierter
Gemeinden weltweit.
Ein katechetischer Unterricht wird aufgebaut, ein Katechismus geschrieben,
viel kürzer als die Institutio und deutlich an Luthers Kleinen Katechismus
angelehnt.
Aber der Rat der Stadt tut sich schwer mit Calvins Reformvorschlägen.
Man stimmt den Anträgen erst nach langem Zögern zu. Die Lage
eskaliert, als man den Einwohnern von Genf unterbreitet, sie möchten
doch das Glaubensbekenntnis unterschreiben. Viele wollten das nicht, und
so wachsen durch dieses fehlgeschlagene Experiment die Spannungen zwischen
den Katholiken und den Evangelischen. Es war wohl ein Fehler Calvins,
sich hier durchsetzen zu wollen. Der Widerstand gegen Calvin wächst.
1538 gibt es Wahlen in Genf, und dort tragen die Oppositionsparteien,
die eher römisch-katholisch gesonnen sind, den Sieg davon. Neben
der allgemeinen Unruhe in der Bevölkerung sorgen auch die Wiedertäufer
für zusätzliche Probleme. Und es werden schwere auch dogmatische
Anschuldigungen gegen Farel und Calvin erhoben, etwa, dass Calvin ein
Arianer sei und die göttliche Natur Christi leugne.
Diese Unterstellung trifft Calvin inhaltlich nicht, er ist keineswegs
ein dem Arianismus nahestehender Theologe. Aber Calvin geht auf die Vorwürfe
nicht ein. Deshalb wird die Sache nach Bern gebracht, wo Calvins Haltung
Verdacht erregt. Es werden keine Konsequenzen gezogen, aber Calvins Position
in Genf ist durch diese Unterstellungen geschwächt worden. Die Wahlen
von 1538 hatten der Opposition die Mehrheit gebracht, und der neue Rat
verbietet es Calvin und Farel, am Ostersonntag zu predigen. Calvin und
Farel setzen sich über das Gebot hinweg, daraufhin werden sie ihres
Amtes enthoben und müssen innerhalb von drei Tagen die Stadt verlassen.
Es scheint, dass die Genfer Zeit nur eine Episode gewesen ist; gerade
einmal zwei Jahre ist Calvin in Genf gewesen.
Calvin will nach Basel zurückkehren und dort seine Studien wieder
aufnehmen, Farel wird schon im Juli nach Neuchâtel berufen. Freunde
kritisieren Calvin für seine Halsstarrigkeit, und auch er selber
sieht ein, dass er verkehrt und zu stur gehandelt hat und zieht daraus
den Schluss, dass er für eine öffentliche Wirksamkeit nicht
in Frage kommt, sondern eher ein stilles Gelehrtendasein führen will
und soll.
So weigert er sich auch eine ganze Weile lang gegen die Bitte der Straßburger,
zu ihnen zu kommen und die dortige französische Flüchtlingsgemeinde
als Pastor zu betreuen. Aber schließlich kommt er doch, weil ihn
Martin Bucer und Wolfgang Capito eindringlich bitten. Straßburg
ist 1538 eines der bedeutendsten Zentren des deutschen Protestantismus.
Bucer und Capito haben, obwohl sie sich 1536 der Wittenberger Reformation
angeschlossen hatten, Selbstständigkeit bewahrt, auch theologisch.
Bucer gilt als der wichtigste Verhandlungsführer der evangelischen
Partei schlechthin.
Calvin wird also Pastor der französischen Flüchtlingsgemeinde
und baut sie nach Straßburger Vorbild auf, übernimmt die Gottesdienstordnung
der Straßburger und gestaltet sie nur unwesentlich um. Daneben aber
hat er an der neugegründeten Hochschule einen Lehrstuhl für
Exegese inne, wo er das Johannesevangelium und dann einige Paulusbriefe
auslegt; seine Kommentare sind auch gedruckt worden.
Vor allem arbeitet er an einer neuen Ausgabe seiner Institutio, die 1539
erscheint. War es vorher eher ein ausführlicher Katechismus gewesen,
der sich zudem noch an Luthers Theologie orientiert, ist es jetzt ein
eigenständiges umfangreiches Lehrbuch der Dogmatik.
Die Straßburger Zeit ist ausgefüllt. Jede Woche hält er
vier Predigten, seine Vorlesungen, arbeitet seine Bücher aus und
unternimmt auch noch mehrere Reisen, um an Religionsgesprächen teilzunehmen,
etwa 1539 in Frankfurt/Main. Dort macht Calvin die Bekanntschaft mit Melanchthon,
und zwischen beiden entsteht eine Freundschaft. Der engste Mitarbeiter
Luthers wird also zum Freund Calvins. Vor Luther hat Calvin zeit seines
Lebens großen Respekt, auch Luther äußert sich positiv
über Calvin, aber gleichzeitig hat Calvin in Luthers letzten Lebensjahren
Mühe mit dessen Starrköpfigkeit.
Die lutherischen Gemeinden in Deutschland legen, so findet Calvin, zu
wenig Akzent auf das kirchliche Leben und richten sich noch viel zu sehr
nach den römisch-katholischen Liturgien und Messformen; auch empfindet
er die Abhängigkeit von den Fürsten als äußerst problematisch.
Die Lage in Straßburg scheint für Calvin günstig, und
so sieht es so aus, dass Calvin auf lange Zeit dort bleiben wird. 1539
erhält er auf eigenen Wunsch das Bürgerrecht in der kleinen
Republik. Und auch seine finanzielle Lage verbessert sich, nachdem er
anfangs sogar einen Teil seiner Bücher hat verkaufen müssen.
Man denkt in seiner Umgebung auch daran, ihn zu verheiraten; von allein
scheint ihm der Gedanke nicht gekommen zu sein. Zwei Versuche scheitern.
Endlich willigt Calvin ein, Idelette de Bure zu heiraten. Sie ist die
Witwe eines Wiedertäufers, den er selbst bekehrt hatte. 1540 kommt
Farel aus Neuchâtel angereist, um beide zu trauen.
In Genf hatten sich unterdes manche unerfreulichen Dinge
ereignet. Nach der Abreise Farels und Calvins war im kirchlichen Leben
viel in Unordnung geraten; Freunde Calvins in Genf nahmen den Versuch
auf, die Nachfolger Calvins und Farels nicht anzuerkennen, was Calvin
zum Eingreifen veranlasst: Er fordert die Anerkennung der neuen Pastoren.
Es kommt dann zur Beruhigung, aber zu einer unsicheren. Bern versucht,
die Kontrolle über Genf zu bekommen. Dann werden auch die Nachfolger
aus der Stadt gejagt. Man fürchtet einen Konflikt, sogar einen bewaffneten.
Die Reformierten bewegen einen Teil der Gegner zur Einsicht, dass die
Ordnung nur wieder hergestellt werden könne, wenn Calvin so schnell
wie möglich zurückgerufen werde. Am 20. Oktober 1540 macht sich
eine Gesandtschaft aus Genf nach Straßburg auf, um Calvin zur Rückkehr
nach Genf zu bewegen. Calvin zögert - und lehnt ab. Auch Farel stellt
sich in den Dienst der Genfer und sucht Calvin zu überreden, ohne
Erfolg. Bucer will Calvin gerne in Straßburg behalten. Der ganze
Werbungsversuch dauert insgesamt mehr als ein halbes Jahr, und schließlich
willigt Calvin ein, für einige Wochen zurückzukehren. Am 13.
September 1541 kommt Calvin wieder in Genf an, jedoch entgegen seiner
Planung nicht nur für einige Monate, sondern für den Rest seines
Lebens.
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