Lektion 4: Das Lukasevangelium

Zur Person des Verfasser
Die Quellen des Lukasevangeliums
Wann wurde das lukanische Doppelwerk geschrieben?
Wo ist das lukanische Doppelwerk entstanden?
Die Adressatinnen und Adressaten des lk Doppelwerkes
Grobgliederung des Lukasevangeliums
Feingliederung des Lukasevangeliums

Zur Person des Verfassers

Irenäus (adversus Haereses 3,1,1, um 180 n. Chr.) führt das Evangelium auf Lukas den Arzt und Reisebegleiter des Apostels Paulus zurück, in Haer 3,14,1 mit Hinweis auf die "Wir"-Passagen der Apostelgeschichte (Apg 16,10-17; 20,5-15; 21,1-18; 27,1-28,16). Der canon Muratori um 200 weiß: "Dieser Arzt Lukas hat das Evangelium nach der Himmelfahrt Christi, nachdem ihn Paulus als wissenschaftlich gebildeten Mann mit sich genommen hatte, unter seinem eigenen Namen nach den Anschauungen des Paulus geschrieben."
Dass Lukas Arzt gewesen sein soll, hat man gelegentlich mit der Nähe zur medizinischen Fachterminologie der alten Welt finden wollen - Handbücher der Medizin gab es auch schon in alter Zeit, u.a. von Hippokrates und später von Galen. Doch ist die Nähe des Lukas zu solcher Terminologie nicht größer als die Nähe zur Terminologie anderer Fachgebiete, etwa zum Seefahrtswesen Apg 27; 28 oder zum Justizwesen Apg 21ff. und ist Teil des Selbstverständnisses. Zu den Tugenden des antiken Historikers gehörte es, in den Dingen, die er darstellen wollte, eigene Erfahrung zu haben, sei es durch eigene Reisen, sei es durch Befragen von Experten. Zu den Tugenden des antiken Historikers gehörte es ferner, jede Person in der jeweiligen Situation in der passenden Sprache reden zu lassen - deshalb redet Petrus in Jerusalem anders als Paulus in Athen. Zu den Tugenden den Historikers gehört die Benutzung von Quellen - als Quellen hat Lukas das Markusevangelium und die Logienquelle sowie umfangreiches Sondergut aufgenommen; den Charakter einer Heiligen Schrift hat er diesen Quellen nicht zuerkannt.
Aber auch gegen die Annahme, Lukas sei Paulus-Schüler gewesen, erheben sich Bedenken:
"... der Verfasser der Apg ist in seiner Christologie vorpaulinisch, in seiner natürlichen Theologie, Gesetzesauffassung und Eschatologie nachpaulinisch. Es findet sich bei ihm kein einziger spezifisch paulinischer Gedanke" (P. Vielhauer, Zum Paulinismus der Apostelgeschichte, 26).
Gegen einen Paulusschüler spricht darüber hinaus folgendes:
Lukas irrt in der Zahl der Jerusalemreisen des Paulus. Vor allem aber bestehen Divergenzen in der Darstellung des Apostelkonzils in der Rolle des Jakobus, in Apg 15 ist er Vermittler zwischen Paulus und konvertierten Pharisäern, bei Paulus selbst Partei.
Lukas erwähnt nie, dass Paulus Briefe geschrieben habe. Zwar könnte man einwenden, Lukas verschweige die Briefe aus dem Anliegen heraus, die Spannungen innerhalb der christlichen Gemeinde möglichst zu nivellieren, doch hätte Lukas z.B. den Ersten Thessalonicherbrief oder den Römerbrief durchaus erwähnen können, ohne seinem harmonisierenden Bild der Gemeinde Abbruch zu tun.
Es bestehen im lukanischen Doppelwerk nur schwache Anklänge an paulinische Theologie. Was Paulus noch durchsetzen musste (die beschneidungsfreie Heidenmission), setzt Lukas als längst bekannt voraus, ohne dass er die Kämpfe darum sichtbar werden läßt.
Lukas verweigert Paulus bis auf Apg 14,4.14 den Aposteltitel! Das widerspricht dem paulinischen Selbstverständnis durchaus.
Literatur: Vielhauer, P., Zum "Paulinismus" der Apostelgeschichte, wiederabgedruckt in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament, TB 31, München 1965, 9-27.
Schnelle, U., Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, 3. Aufl. Göttingen 1999, 255-259.

Ist Lukas Heiden- oder Judenchrist?

Umstritten ist, ob Lukas vor seiner Hinwendung zum Christentum Heide, Gottesfürchtiger oder Jude war. Für heidnische Herkunft lassen sich die geringe geographische Kenntnis des Landes Israel, die Vermeidung von Semitismen und das geringe Interesse an kultischen Fragen anführen, das beschneidungsfreie Heidenchristentum stellt für Lukas längst den Normalfall dar. Demgegenüber hat Jacob Jervell für die Herkunft des Lukas aus dem Judentum u.a. auf das jüdisch geprägte Messiasbild und den um den Begriff "Gottesvolk" zentrierten Kirchenbegriff verwiesen; jüdische Wörter, Begriffe und Bräuche erschienen von Lk 1 bis Apg 28 und würden nur zu fünf Prozent erläutert; das Aposteldekret zeige, dass und wieweit das Gesetz auch für Nichtjuden gilt. Doch wird man Aussagen wie Apg 13,38; 15,10 auch einem ehemaligen Juden nicht gerne zutrauen. In Apg 15,20.29 wird eine partielle Weitergeltung auch ritueller Teile der Thora auch für die Heidenchristen anempfohlen, um den Judenchristen ein Mindestmaß an kultischer Reinheit zu ermöglichen - Lukas hat die Einheit der Kirche vor Augen, nicht die Begründung der empfohlenen Praxis in der Thora. An seine Vorlagen trägt Lukas gelegentlich biblischen Stil heran (vgl. z.B. Lk 5,12.17; 6,6.12; 8,22; 9,18.28.37), ohne dass damit ein korrespondierender Zugewinn an expliziten theologischen Bezügen zur Heiligen Schrift Israels gewonnen wäre. Ein für die sog. Gottesfürchtigen typisches Interesse an jüdischem Monotheismus und jüdischer Ethik ist bei Lukas nicht nachzuweisen, eher ein Interesse, das den eigenen soteriologischen Status als im Einklang mit Gottes Willen deklariert. So dürfte Lukas am ehesten als Heidenchrist zu bezeichnen sein; Kenntnis und Wertschätzung des Judentums heben ihn allerdings aus der sonstigen nichtjüdischen Literatur über das Judentum zweifellos hinaus.
Literatur zur Weiterarbeit: Jervell, J., Die Apostelgeschichte übersetzt und erklärt, KEK 3, Göttingen 1998.

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Die Quellen des Lukasevangeliums

Lukas folgt im Großen dem Aufbau des Markusevangeliums, von dem er auch einen großen Teil seines Stoffes bezieht. Zu beachten ist jedoch die sog. lukanische Lücke: Es fehlt alles zwischen Mk 6,45 und 8,26. Mögliche Ursachen: 1. Lukas kannte ein Mk-Ev ohne diese Texte 2. Lukas läßt diese Texte bewusst weg.
In den Markusstoff schiebt Lukas an zwei Stellen Stoff aus Q und Sondergut ein: man spricht von der
- kleinen Einschaltung Lk 6,20-8,3 und von der
- großen Einschaltung Lk 9,51-18,14.
Diskutiert wird ferner, ob das Sondergut oder Teile daraus (zB. Kindheitsgeschichten; Parabeln, Teile der Passionsgeschichte) einer durchlaufenden Quelle entstammen. Zu einem Konsens hat die Forschung hierin noch nicht gefunden.

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Wann wurde das lukanische Doppelwerk geschrieben?

Früher wurde das lukanische Doppelwerk gelegentlich auf die Zeit um 60 datiert, mit dem einfachen Argument, die Apostelgeschichte erzähle nichts vom Tod des Paulus. Bei Theodor Zahn war dies verbunden mit der Absage an die Zweiquellentheorie. Aber: Lukas setzt in Apg 20,18-38; 21,11.13 den Märtyrertod des Paulus voraus. Zudem lässt die Zeitangabe von "zwei Jahren" in Apg 28,31 erkennen, dass der Verfasser mehr wusste als er schrieb.
Hätte das Werk noch eine Fortsetzung haben sollen? Auffallend ist, dass in Kap. 21-26 sehr ausführlich über den Prozess in Caesarea berichtet wird, die Erwartung des Lesers aber, über den Prozess in Rom ebenso ausführlich unterrichtet zu werden, sich dann nicht erfüllt. Man kann allerdings theologisch begründen, dass der jetzige Buchschluss in Apg 28,31 auch den geplanten Abschluss des Doppelwerkes bildet: Die Ankunft des Paulus in der Welthauptstadt Rom ist Lukas wichtiger als das persönliche Schicksal des Völkerapostels. Die Sache geht vor der Person.
Gemäß dem wissenschaftlichen Konsens ist das Werk wohl doch auf die Jahre 80-90 n. Chr. zu datieren. Markus und die Logienquelle sind aufgenommen. Die Zerstörung Jerusalems ist vorausgesetzt und mehrfach mit der Ablehnung Jesu in Beziehung gebracht (Lk 19,41-44; 23,27-31). Ferner bearbeitet Lukas typische Probleme der dritten christlichen Generation, nämlich die Kontinuitätssicherung zu den Ursprüngen angesichts des Auftretens von Irrlehren (Apg 20,30) und das Problem des Reichtums, das in mehreren spätneutestamentlichen Schriften verhandelt wird (s.u.). Für eine spätere Zeit spricht des weiteren der fortgeschrittene Zustand der Verfassung; es gibt Älteste (Apg 14,23; 20,17) und wohl auch Diakone (Apg 6,1-6) in der Gemeinde als Organe.

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Wo ist das lukanische Doppelwerk entstanden?

Schon in der alten Kirche schwanken die Angaben zwischen Achaia (römische Provinz mit Korinth als Hauptstadt), Rom und Antiochia am Orontes (Syrien). Auch nach heutigem Kenntnisstand lassen sich keinerlei gesicherte Angaben erheben. Gelegentlich favorisieren Indizien lokaler Vertrautheit bestimmte Abfassungsorte, doch ist, so lange das Quellenproblem für die Apostelgeschichte unlösbar bleibt, immer auch mit dem Vorliegen einer Quelle oder mit der mündlichen Kenntnis von Ortstraditionen zu rechnen, sodass die Ortskenntnis, die ein bestimmter Text verrät, nicht ohne weiteres für den Evangelisten verbucht werden kann.

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Die Adressatinnen und Adressaten des lk Doppelwerkes

Hat Lukas für Nicht-Christen oder Christen geschrieben? War Theophilus Christ oder war er Heide, sei es, dass Lukas ihn für den Glauben gewinnen wollte, sei es, dass er ein hoher römischer Beamter war, bei dem Lukas das Christentum gegenüber Verdächtigung verteidigen oder gar vor Verfolgung schützen wollte?
Einerseits will Lukas das Christentum für Gebildete interessant machen. Andererseits setzt er in seinem Evangelium kirchliche Binnensprache aus, ohne sie eigens zu erklären, etwa Begriffe wie "Menschensohn", "Buße" - eine in der paganen Antike philosophisch wenig geschätzte, weil mangelnde vorhergegangene Reflexion offenbarende Verhaltensweise. Lukas hat demnach vermutlich für christliche Leser geschrieben.

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Grobgliederung des Lukasevangeliums:

1,1-9,50 als Beschreibung der Identität Jesu
   1,1-4 Prolog: Die schriftstellerische Absicht des Lukas
   1,5 - 2,52 Vor- und Kindheitsgeschichten
   3,1-4,15 Vorbereitung des öffentlichen Wirkens Jesu
   4,16-9,50 Jesu Wirken in Galiläa

9,51-19,27 Darstellung der Lehre Jesu für die nachösterliche Zeit
Die Abgrenzung am Ende ist umstritten .

19,28-24,53 Bericht über Jesu letzten Lebenstage.
   19,28-21,38 Die letzten Tage Jesu vor der Passion
   22,1-24,53 Die lk Passions- und Ostergeschichte

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Feingliederung des Lukasevangeliums

1,1-4 Prolog: Die schriftstellerische Absicht des Lukas  
1,5 - 2,52 Vor- und Kindheitsgeschichten  
1,5-25 Ankündigung der Geburt des Täufers  
1,26-38 Ankündigung der Geburt Jesu  
1,39-56 Besuch der Maria bei Elisabeth  
1,41-45 Huldigung gegenüber dem noch ungeborenen Jesuskind  
1,46-55 Magnificat  
1,57-66 Geburt des Täufers  
1,67-80 Lobpreis des Zacharias  
1,68-79 Benedictus  
2,1-21 Geburt und Beschneidung  
2,22-40 Jesus im Tempel. Simeon und Hanna  
2,29-32 Canticum Simeonis  
2,34f. Die zweite Prophetie Simeons, die Reaktion Israels auf Jesus betreffend  
2,41-52 Der zwölfjährige Jesus im Tempel  

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Sinn der Vorgeschichten:

In Jesus erfüllt sich die Erwartung Israels, aber Israel wird gespalten darauf reagieren (zweite Prophetie Simeons, die durch den Gang der Ereignisse vor allem ab Lk 7,1 bestätigt wird).
Das Verhältnis zwischen Jesus und dem Täufer lässt sich mit dem Begriff der überbietenden Kontinuität beschreiben: Einerseits ist Jesus mehr als der Täufer (er ist vom Heiligen Geist gezeugt, ihm wird schon vor seiner Geburt gehuldigt; seine Geburt wird im Himmel besungen), andererseits ist der Täufer positives Glied in der Geschichte Gottes mit seinem Volk.

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Die römischen "Kaiser" zwischen 30 v. Chr. und 138 n. Chr.

Die Bezeichnung "Kaiser" ist insofern unangemessen, als das Kaisertum zu der hier interessierenden Zeit nie verfassungsmäßig abgesichert war; in der althistorischen Forschung spricht man deshalb eher vom princeps als vom Kaiser. Die Machtfülle des princeps beruhte darauf, dass er mehrere wichtige Ämter aus der Zeit der römischen Republik in seiner Person vereinigte. Lediglich aus Gründen der Konvention wird i.f. die übliche Bezeichnung "Kaiser" beibehalten.

Die julisch-klaudische Dynastie   Geschichte Israels und der Kirche
Augustus 30 v. Chr.- 14 n. Chr   Einführung des Zensus 6 n. Chr.; Entstehung . der Partei der Zeloten
Tiberius 14-37 n. Chr.   26-36 Pilatus Prokurator, um 30 Tod Jesu
33(?) Berufung des Paulus
Caligula 37-41 n. Chr.   Unruhen in Alexandria und Jerusalem
41-44 n. Chr. Agrippa I. Israel und Juda sind letztmals politisch selbständig von Roms Gnaden. Nach Agrippas Tod wieder Umwandlung in eine Provinz
Claudius 41-54 n. Chr.   vermutlich 49 Vertreibung der Juden aus Rom (Unruhen aufgrund eines gewissen Chrestos)
Paulus beginnt ca. 49 seine Mission in Europa
Nero 54-68 n. Chr.   Seneca (erzwungener Selbstmord 65)
Brand Roms, Christenverfolgung (u.a. Paulus Petrus)
ab 66 n. Chr. Jüdischer Krieg.
Galba, Otho, Vitellius 68/69 n. Chr.    
Die flavische Dynastie
Vespasian 69-79 n. Chr.   70 Zerstörung Jerusalems durch den Feldherrn und nachmaligen Kaiser Titus
Titus 79-81 n. Chr.    
Domitian 81-96 n. Chr.    
Die sog. Adoptivkaiser (Vorgänger adoptiert den designierten Nachfolger auch zum eigenen Sohn)
Nerva 96-98 n. Chr.    
Trajan 98-117 n. Chr.    
Hadrian 117-138 n. Chr.   erneuter jüdischer Krieg 132-135 n. Chr., nochmalige Zerstörung Jerusalems

Die politischen Verhältnisse in Israel zur Zeit Jesu sind in Lk 3,1 richtig benannt: Zur Zeit der öffentlichen Wirksamkeit Jesu gehörte Galiläa zum Herrschaftsgebiet des Herodes Antipas (4 v. - 39 n. Chr.), eines Sohnes Herodes' d. Gr., Samaria und Judäa hingegen waren (seit 6 n. Chr.) kaiserliche Provinz minderen Ranges (s.u. zu Pontius Pilatus).

3,1-4,15 Vorbereitung des öffentlichen Wirkens Jesu  
3,1-20 Verkündigung und Geschick des Täufers Mk 1,2-8; Mt 3

 

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Johannes der Täufer

Johannes der Täufer gehört zu den wenigen Figuren der biblischen Geschichte, wo uns ein unmittelbarer Vergleich biblischer und anderer zeitgenössischer Aussagen möglich ist. Sie betreffen die für ihn typische Tätigkeit ebenso wie sein gewaltsames Lebensende.
Nach dem, was wir aus der Bibel und aus Josephus, Antiquitates 18,116-119 über ihn wissen, hat er an freiwilligen Taufbewerbern die einmalige rettende Reinigungstaufe zur Vergebung der Sünden angesichts des kommenden Feuerrichters gespendet. Seine Tauftätigkeit war dasjenige, wodurch er im Rahmen des damaligen Judentums auffiel, der Beiname "der Täufer", vom Neuen Testament in Mk 6,25; Mt 11,11 sowie von Josephus Ant 18,116 einmütig bezeugt, verweist darauf.
Bei Josephus, Antiquitates 18,116-119 wird Johannes der Täufer geschildert als "ein edler Mann, der die Juden anhielt, nach Vollkommenheit zu streben, indem er sie ermahnte, Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegen Gott zu üben und so zur Taufe zu kommen. Dann werde, verkündigte er, die Taufe Gott angenehm sein, weil sie dieselbe nur zur Heiligung des Leibes, nicht aber zur Sühne für ihre Sünden anwendeten; die Seele nämlich sei dann ja schon vorher durch ein gerechtes Leben entsündigt" (Antiquitates 18,117). Der Täufer übt nach Josephus eine gewaltige Anziehungskraft auf das Volk aus; Herodes Antipas sieht darin nur die Gefahr des Aufruhrs und lässt ihn auf die Festung Machärus bringen und dort umbringen (Antiquitates 18,118f.); die Niederlage des Antipas gegen den Araberkönig Aretas wird aber von vielem im Volk als gerechte Strafe Gottes empfunden (Antiquitates 18,116).
So bestehen Gemeinsamkeiten zwischen Josephus und neutestamentlichen Texten:

  1. Der Beiname "der Täufer"
  2. Die Anziehungskraft auf das Volk (vgl. Mk 1,5 parr. mit Josephus, Ant 18,116).
  3. Der generelle Zusammenhang zwischen Taufe und Heiligtum des eigenen Lebens
  4. Die Tatsache des gewaltsamen Todes

Doch bestehen auch Divergenzen zwischen Josephus und den neutestamentlichen Texten:

  1. Die Taufe gilt nach Josephus nicht als Sühne für die Sünden, sondern als Bekenntnisakt der bereits vollzogenen ethischen Umkehr. Josephus dürfte hier für griechische Leser den Sachverhalt pointiert dargestellt haben.
  2. Johannes wird nach Josephus wegen seiner Anziehungskraft auf das Volk, nach Mk 6,14-29 parr. wegen seiner Kritik an des Antipas illegitimer Ehe hingerichtet. Hierin dürfte Josephus historisch richtig gesehen haben. - Auch die Ortsangaben harmonieren nicht.

Das Verhältnis Johannes des Täufers und Jesu von Nazareth
Dass sich Jesus von Johannes taufen ließ, dürfte historisch zutreffen. Historisch richtig dürfte ebenfalls sein, dass Jesus zeitlebens eine hohe Meinung von dem Täufer hatte. Historisch gesehen problematisch ist hingegen der Versuch, den Täufer zu einem "Vorläufer" Jesu zu machen, denn:

  1. Nach Lk 3,7-9 hat der Täufer wohl Gott selbst als den kommenden Feuerrichter erwartet, nicht eine von ihm unterschiedene Gestalt.
  2. Die Perikope Lk 7,18-23 parr. verweist auf Spannungen zwischen dem Täufer und Jesus.

Dennoch ist die Haltung der neutestamentlichen Schriftsteller, den Täufer betreffend, mit dem Begriff des Vorläufers m.E. nur unzureichend wiedergegeben. Einerseits überbietet Jesus den Täufer, insofern er der endgültige, nicht der nur vorläufige Gottesbote ist (deshalb wird der Täufer, nicht Jesus selbst mit dem wiederkommenden Elia identifiziert; Mk 9,11-13), andererseits wird Jesu Verkündigung auch als Weiterführung der Verkündigung des Täufers begriffen (vgl. Mt 3,2 mit Mt 4,17): der Täufer fordert von Israel ebenso die Frucht der Buße (Mt 3,8), wie die Jünger durch Jesu Verkündigung zu solchem Tun des Willens Gottes gefordert sind (Mt 7,21-23); beide mahnen zur Barmherzigkeit und warnen vor der Selbstsicherheit (vgl. Lk 3,11/6,37 sowie Lk 3,8/6,46). Die Täuferanfrage gibt nach Jesu Worten nicht das Recht, die Sendung des Täufers in Frage zu stellen (Lk 7,24-35). So gilt: Wer das Wirken des Täufers bejaht, kann Jesu Wirken nicht ablehnen (Mk 11,28.30).
Theologisch lässt sich das Verhältnis zwischen Jesus und dem Täufer nicht in der Weise simplifizieren, dass man den Täufer als bloßen Gerichtsprediger, Jesus als den bloßen Prediger des Heils bezeichnet. Jesus hat auch Gericht gepredigt. Gleichwohl zählt die Frage nach dem Übergang des Täuferschülers Jesus von Nazareth zu einer Predigt, die auch Heil verkündigt, hinsichtlich Zeitpunkt und Motivation dieses Überganges zu den ungelösten Fragen der Jesusforschung.

Die Johannestaufe und die spätere christliche Taufe sind in mehrerlei Hinsicht vergleichbar:

  1. Die Johannestaufe ist mit der Forderung der Umkehr verbunden (Mk 1,4; vgl. die allgemeine Charakterisierung des Johannes als eines Bußpredigers Mt 3,7-10). Dieser Ruf zur Umkehr verheißt Rettung vor dem endgültigen Zornesgericht Gottes (Lk 3,9.17).
  2. Der Täufling taufte sich nicht selbst; die Handlung wurde durch den Täufer vollzogen.
  3. Die Taufe wurde aufgrund des freiwilligen Kommens der Taufbewerber vollzogen.
  4. Sie war ein einmaliger Ritus.

So hat die christliche Taufe ihre religionsgeschichtlichen Wurzeln wohl in der Johannestaufe.

3,21f. Taufe Jesu Mk 1,9-11
3,23-38 Ahnenreihe Jesu vgl. Mt 1,1-17 (Differenzen)
4,1-13 Versuchung Jesu Q, vgl. Mt 4,1-11
4,14f. Summarium  

Sinn dieser Kapitel: Die Verkündigung des Täufers führt auf die Verkündigung des irdischen Jesus hin, die inhaltlich in Kontinuität zu der des Täufers steht. Der Stammbaum hat sein Ziel in den beiden Schlussgliedern: 1. Jesus ist Sohn Adams, von daher mit allen Menschen verbunden; allen Menschen gilt das Heil; 2. Jesus ist auch seinem Herkommen nach Sohn Gottes, wie die Heroen der griechischen Umwelt physisch von den Göttern abstammen. Dass Gott eigentlich der Schöpfer, nicht der Vater Adams ist, weiß Lukas (Apg 17,24.26.28f.), doch kommt es ihm hier darauf nicht an.

4,16-9,50 Jesu Wirken in Galiläa  
4,16-6,49 Jesu Wirken vor dem noch ungeteilten Israel  
  4,16-30 Verwerfung in Nazareth Mk 6,1-6 (umgestellt!)
  4,31-37 Exorzismus Mk 1,21-28
  4,38f. Heilung der Schwiegermutter des Petrus Mk 1,29-31
  4,40f. Summarium Mk 1,32-34
  4,42-44 Weiterzug nach Judäa Mk 1,35-38
  5,1-11 Fischzug des Petrus Sondergut (= SoG)
  5,12-16 Heilung des Aussätzigen Mk 1,40-45
  5,17-26 Heilung des Gelähmten Mk 2,1-12
  5,27-32 Berufung des Levi und Zöllnergastmahl Mk 2,13-17
  5,33-39 Fastenfrage Mk 2,18-22
  6,1-5 Ährenraufen am Sabbat Mk 2,23-28
  6,6-11 Heilung am Sabbat Mk 3,1-6
  6,12-16 Berufung der zwölf Jünger Mk 3,13-19
  6,17-19 Summarium Mk 3,7-9
  6,20-49 Feldrede Q, vgl. Mt 5 - 7
    6,20-23 Seligpreisungen Q, vgl. Mt 5,3-12
    6,24-26 Weherufe SoG
    6,27-35 Feindesliebe Q, vgl. Mt 5,39-48
    6,36-42 gegen das Richten Q, vgl. Mt 7,1-5
    6,43-46 Vom Tun des göttlichen Willens Q, vgl. Mt 12,33-35
    6,47-49 vom Haus auf dem Felsen Q, vgl. Mt 7,24-27

In Lk 4,16-6,49 folgt Lukas dem Aufbau des Markus, allerdings mit folgender Änderung: Die Verwerfungsszene Mk 6,1-6a wird an den Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu gestellt, um in linearer geschichtlicher Perspektive den Richtungssinn des Geschehens festzuhalten: Ein Großteil Israels wird Jesus und die Verkündigung der Christen ablehnen.
Anders als bei Matthäus steht die Berufung der zwölf Jünger vor der Feldrede. Die Apostel als die Augenzeugen = Garanten der Tradition (Apg 1,21f.) sollen Jesu Lehre von Anfang an mitbekommen haben.

7,1-9,50

Spaltung in Israel aufgrund des Wirkens Jesu

 

7,1-10

Hauptmann zu Kapernaum

Q,
vgl. Mt 8,5-13

7,11-17

Jüngling zu Nain (Totenerweckung)

SoG

7,18-35

Täuferanfrage und Jesu Zeugnis über den Täufer   

Q,
vgl. Mt 11,2-24

7,36-50

Salbung durch die Sünderin

(Mk 14,3-9?)

8,1-3

Nachfolgerinnen Jesu

SoG

8,4-18

Gleichnisrede

Mk 4 i.A.

8,4-8

Gleichnis vom Sämann

Mk 4,3-9

8,9-10

Sinn der Gleichnisse

Mk 4,10-12

8,11-15

Deutung des Sämannsgl.

Mk 4,13-20

8,16-17

Gleichnis vom Licht

Mk 4,21-25

8,18

Mahnung zum rechten Hören

 

8,19-21

Jesu wahre Verwandte

Mk 3,32-35

8,22-25

Stillung des Sturmes

Mk 4,35-41

8,26-39

Heilung des Geraseners

Mk 5,1-20

8,40-56

Tochter des Jairus/blutflüssige Frau

Mk 5,21-43

9,1-6

Aussendung der zwölf Jünger

Mk 6,7-13

9,7-9

Herodes und Jesus

Mk 6,14-16

9,10-17

Speisung der 5000

Mk 6,31-44

        ---

   

9,18-22

Petrusbekenntnis/erste Leidensankündigung 

Mk 8,27-33

9,23-27

Leidensnachfolge

Mk 8,34-38

9,27-43a

Heilung des epileptischen Knaben

Mk 9,14-29

9,43b-45

zweite Leidensankündigung

Mk 9,30-32

9,46-50

Rangstreit der Jünger

Mk 9,33-50

Tendenz dieses Abschnittes:

  1. Die Spaltung in Israel wird in Lk 7 anhand einiger Erzählungen thematisiert, die den Prophetentitel enthalten. Jesus ist nach Lukas auch ein Prophet, der u.a. die Zerstörung Jerusalems ankündigt.
  2. Lukas kann in diesem Abschnitt sachlich begründet in Lk 8,4-9,50 die Anordnung nach Markus (Mk 4,1-6,44; 8,27-9,50) beibehalten, weil schon diese Stücke größtenteils eine besprochene bzw. erzählte negative Reaktion auf Jesus enthalten bzw. voraussetzen.
  3. Zur Umstellung von Mk 6,1-6a s.o. Die Erzählung von der wahren Verwandtschaft Jesu wird von ihrem ursprünglichen Zusammenhang mit der Beelzebulkontroverse getrennt und als Erläuterung des richtigen Hörens Lk 8,18 nach der Gleichnisrede eingeordnet.
  4. Ansonsten fallen stilistische Verbesserungen (der See Genezareth wird als "See", nicht mehr als "Meer" bezeichnet) und szenische Verknüpfungen (Lk 9,31 verbindet das Verklärungs- mit dem Passionsgeschehen) auf.
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9,51-19,27 Der sog. Reisebericht als Zurüstung der Gemeinde für die nachösterliche Zeit

Aufgrund der weitgehenden kompositorischen Bindung des Lukas an seine Quellen wird die Frage nach der Feingliederung nicht im Sinne eines logischen gedanklichen Fortschreitens zu beantworten sein. Auch lässt sich von daher verstehen, dass thematisch verwandte Texte wie Lk 16,19-31 und Lk 18,18-23 nicht zusammengeordnet wurden. Als Gliederungssignale für die Grobgliederung gelten zumeist die lk Notizen, die daran erinnern, dass sich Jesus auf Wanderschaft befindet, in Lk 13,22 und Lk 17,11.
Wichtiger ist die Frage, unter welchen Gesichtspunkten Lukas seine Stoffe neu bearbeitet hat. Aufschluss darüber können geben:

  1. die möglichen Motive der Integration von Sondergutstoffen und Q-Stoffen
  2. die aus dem Vergleich mit Matthäus zu erhebenden lk Zusätze.
  3. Gelegentlich auch der Wechsel der Anrede, d.h. der Übergang von der Belehrung der Gegner oder des Volkes zur Belehrung der Jünger.

Dabei werden Unsicherheiten bleiben, denn

  1. ist eine Kürzung ganzer Q-Texte durch Matthäus nicht auszuschließen, so dass einiges, was wir heute dem Sondergut des Lukas zuschreiben, auch aus Q stammen könnte,
  2. ist nicht immer zu erweisen, dass innerhalb von Q-Texten lk Erweiterungen gegenüber den Matthäusparallelen auf die lk Redaktionsarbeit zurückgehen müssen; es könnte auch eine mt Kürzung oder eine Überarbeitung QLk für die Divergenz verantwortlich sein.
  3. gelegentlich kennt auch Lukas Umstellungen gegenüber Q, so z.B. zu Lk 11,49-51; 13,34f.; hier dürfte Matthäus die ursprüngliche Reihenfolge bewahrt haben (James Robinson).
  4. Auch der Wechsel der Adressaten kann quellenbedingt sein.

Zwei Ebenen sind zu unterscheiden: Auf der Geschehensebene ist neben der Belehrung der Jünger auch die Auseinandersetzung mit (Teilen von) Israel von Bedeutung, auf der textexternen Ebene die Zurüstung der Gemeinde für die nachösterliche Zeit, für die das Versagen von Teilen Israels paränetisches Negativbeispiel ist.
 

9,51 Einleitung  
9,52-56 Verwerfung in Samaria SoG
9,57-62 Nachfolgesprüche Q - Mt 8,19-22
10,1-12 Aussendung der Siebzig  
10,13-16 Weherufe über Bethsaida ... Q - Mt 11,20-24
10,17-24 Wiederkehr der Siebzig Q - Mt 11,25-27
  Die Situation Lk 9,52-56 ist paradigmatisch für die Situation der in 10,1-24 ausgesandten Jünger: Sie erleben größtenteils nichts anderes als Jesus damals in Samaria.  
10,25-37 Barmherziger Samariter SoG
10,38-42 Maria und Martha SoG
11,1-13 Jesus lehrt Beten
Jesus selbst wird als Beter vorgestellt: Lk 3,21; 5,16; 6,12; 9,18; 9,28f.; 11,1; 23,46
Q (Mt 7,7-11) und SoG
11,2-4 Vater Unser Q - Mt 6,9-13
11,14-28 Beelzebulkontroverse Q - Mt 12,22-37
11,29-36 Zeichenforderung Q - Mt 12,38-45
11,37-54 gegen die Pharisäer Q - Mt 23
12,1-12 Mahnung zum Bekennen Q - Mt 10,26-33
  Tun des göttlichen Gebotes, Hören des Wortes Jesu, Beten in der Gewissheit der Erhörung sind Kennzeichen christlichen Lebens und immunisieren zugleich gegen die folgenden Vorwürfe, denen gegenüber das Bekenntnis gilt. Nicht das Christentum ist illegitim, sondern die Haltung der Pharisäer. Lk 10,38-42 hat Lukas möglicherweise als Veranschaulichung der ersten Hälfte des Liebesgebotes (Lk 10,27a) an dieser Stelle eingeordnet.  
12,13-21

Der reiche Kornbauer

SoG
12,22-34 Vertrauen auf Gott Q - Mt 6,25-34.19-21
12,35-48 Seid bereit, Gott zu erwarten Q - Mt 24
12,49-53 Jesus bringt Kampf Q - Mt 10,34-36
12,54-59 "Zeichen der Zeit" Q - Mt 5,25f
13,1-5 Unglück, Schicksal und Buße SoG
13,6-9 Gleichnis vom Feigenbaum SoG

Redaktionell ist die kompositionelle Integration der Sonderguttexte am Anfang und am Schluss:
1. Der Gegensatz zu der den Jüngern anempfohlenen Haltung des Gottvertrauens ist die Habsucht (Lk 12,13-21).
2. Die Mahnung, die Zeichen der Zeit zu erkennen (vgl. Mt 5,25f.), wird durch die Integration der Bußmahnungen Lk 13,1-9 verstärkt.

13,10-17 Sabbatheilung SoG
13,18-21 Senfkorn und Sauerteig Q - Mt 13,31-33
  Die Sabbatheilung ist um des Stichwortes "Lehren" in dem lk-redaktionellen Vers Lk 13,22 willen vor diese Stelle gesetzt, die beiden Gleichnisse wollen die zu erwartende Größe dessen veranschaulichen, was in Jesu Wirken begonnen hat. Jesu heilvolles, die Gottesherrschaft heraufführendes Wirken in Israel geht weiter  
13,22 Reisenotiz  
13,23-30 Ringt darum, selig zu werden! Q + Mk 10,31
13,31-33 Feindschaft des Herodes SoG
13,34f. Klage über Jerusalem Q - Mt 23,37-39
  Herodes und die Jerusalemer erscheinen als Negativbeispiele  
14,1-6 Heilung des Wassersüchtigen am Sabbat SoG
14,7-11 Tischregel SoG
14,12-14 Gästeregel SoG
14,15-24 Das große Gastmahl Q - Mt 22,1-11
14,25-35 Bedenke die Konsequenzen Q - Mt 10,37f.; SoG

Das allgemeine Wissen um die Teilnahme Jesu an Gastmahlen und die Vorlage hinter Q 14,15-24 veranlassten Lukas zur Integration des Sondergutes:

  1. Die Heilung während eines Mahles war wohl schon in der Tradition eine Heilung am Sabbat; Lukas greift das Konfliktmotiv (V. 1.3) im weiteren Verlauf von Lk 14 nicht mehr auf.
  2. Die Tischregel Lk 14,7-11 mag als profane Klugheitsregel integriert worden sein, wobei allerdings die Mahnung zur Demut dem Menschen auch sonst wohl ansteht.
  3. Die Gästeregel Lk 14,12-14 gewinnt durch V. 14 einen Bezug zum Thema von Lk 13,24.
  4. Lukas hat in Lk 14,25-35 Einzelworte kombiniert und als Gegenstück zu Lk 14,15-24 eingestellt: So unbegrenzt der Heilswille Gottes ist, so wenig ist das Heil voraussetzungslos.

    Zu Lk 14,25-35 vgl. Epiktet, Diss III 15,8-12.

Mensch, prüfe zuerst, was das ist (scil. die Philosophie, deren Lebensweise du dich zuwenden willst), dann auch deine eigene Natur, was du tragen kannst. ... Du denkst, du könntest genauso essen, genauso trinken, ähnlich zornig sein, ähnlich unzufrieden sein (wie bisher)? Wachen muss man, Mühen ertragen, gewisse Begierden besiegen, seine Hausgenossen verlassen, sich von einem Jüngling verachten lassen, von denen, die einem begegnen, sich auslachen lassen, in allem weniger haben, an Ehre, an Reichtum, an Recht (vor Gericht). Wenn du dies geprüft hast, ob es dir gut scheint, dann tritt herzu, wenn du dafür Leidenschaftslosigkeit, Freiheit, Unerschütterlichkeit eintauschen willst. Wenn aber nicht, dann tritt nicht herzu, damit du nicht wie die Kinder jetzt Philosoph, später aber Steuereinnehmer, danach Redner, danach Verwalter des Kaisers sein willst.

15,1-7 Verlorenes Schaf Q - Mt 18,12-14
15,8-10 Verlorener Groschen SoG
15,11-32 Verlorener Sohn SoG
  Diese Gleichnistrilogie verteidigt gegenüber Gegnern die von Jesus mit Wort und Tat (vgl. Lk 5,27-32) zum Ausdruck gebrachte Haltung, dass auch "Zöllner und Sünder" zu Israel bzw. zur Gemeinde gehören: Über ihre Buße ist Freude angebracht (Lk 15,7.10.32).  
16,1-9 vom ungerechten Haushalter SoG
16,10-13 von der Treue im Geringen SoG + Q - Mt 6,24
16,14f. Geldgier und Selbstgerechtigkeit der Pharisäer  
16,16 Stürmerspruch Q - Mt 11,12
16,17 Geltung des Gesetzes Q - Mt 5,18
16,18 gegen die Ehescheidung vgl. Mk 10,9
16,19-31 armer Lazarus SoG^
17,1-4 Warnung vor Ärgernis; Mahnung zur Vergebung Mk 9,42; Q - Mt 18,15
17,5f. Stärkung des Glaubens vgl. Mk 11,23
17,7-10 unnützer Knecht SoG

In Lk 16 kommt zweifellos eines der lk Lieblingsthemen zur Sprache, schwieriger ist es, die kompositorische Arbeit des Evangelisten im nachhinein zu erkennen. Ersichtlich ist, dass Lk 16,9-13 aufgrund des Stichwortes "Mammon" zusammenstehen; auch dürfte Lk 16,9 schon vorlk als (bereits die zweite?) sekundäre Deutung an das Gleichnis Lk 16,1ff. angeschlossen worden sein. Das Stichwort Mammon veranlasste Lukas zur Zusammenordnung der in Lk 16 genannten Stücke, die Polemik gegen die Pharisäer eröffnet kompositorisch die Möglichkeit, auch die Problematik des Reichtums von der Thora her zu beleuchten. Die Thora und die Propheten gelten bis Johannes. Die dann verkündigte Gottesherrschaft hebt die Thora nicht einfach auf (16,17), sondern kann sie noch verschärfen, wie an Jesu Stellungnahme gegen die Ehescheidung ersichtlich ist (Lk 16,18 vgl. als Gegenstück dazu Dtn 24,1-4!). Die Geldgier der Pharisäer - und der Christen (!) - ist schon von der Thora her verwerflich (Lk 16,19-31).
Die Haltung der Jünger ist als Gegenbild zu derjenigen der Pharisäer gezeichnet: Sie sollen nicht Anstoß geben, dass jemand vom Glauben abfällt, sie sollen vergeben (vgl. Lk 15,1f.), sie dürfen sich des Beistandes Gottes gewiss sein, und sie sollen sich auf ihren Gehorsam nichts zugute halten (vgl. Lk 16,15). Entsprechende Mahnungen gibt es auch in der rabbinischen Tradition: R. Jochanan ben Zakkai (20-90 n. Chr.) warnt: "Wenn du viel Thora gelernt hast, dann halte dir darauf nichts zugute, denn dazu wurdest du geschaffen" (Abot II,8).

17,11 Reisenotiz  
17,11-19 Heilung der zehn Aussätzigen SoG
Die Geschichte ist hier eingeordnet, weil sie das Miteinander von Samaritanern und Nicht-Samaritanern enthält. Die Ortsangabe, verglichen mit Lk 9,52 zeigt, dass dem Evangelisten die tatsächlichen geographischen Verhältnisse, Samaria und Galiläa betreffend, nicht vertraut waren
 
17,20f. Wann kommt die Gottesherrschaft?  
17,22-37 Parusieverzögerung Mk 13 i.A.
18,1-8 Die bittende Witwe SoG
18,9-14 Pharisäer und Zöllner SoG
Pharisäer

Der Begriff "Pharisäer", in seiner griechischen Form nur im Neuen Testament und bei Josephus belegt, ist ein Musterbeispiel dafür, wie kirchliche Tradition uns ein bestimmtes historisch fragwürdiges Bild der Dinge vermittelt, bis in unseren Sprachschatz hinein, das eine für das Judentum verheerende und uns Christen beschämende Wirkungsgeschichte nach sich zog, indem der Pharisäer, dem in kritikloser Übernahme der neutestamentlichen Aussagen Heuchelei und Kleinlichkeit nachgesagt wurde, vor allem in der frühen Neuzeit zum Bild des Juden schlechthin geworden ist.
Die Hauptprobleme der historischen Rekonstruktion sind: Die uns identifizierbaren Quellen schreiben in gräzisierender Tendenz (Josephus) oder sind zumeist polemisch gefärbt (NT), der Reichtum der uns erhaltenen frühjüdischen Schriften außer Josephus, Philo, Sirach, ist nur bedingt verwertbar, da diese Quellen meist keinen historisch fassbaren Personen zugewiesen werden können und nie genau datiert sind.
Die Geschichte der Pharisäer ist in der Frühzeit in manchem spiegelbildlich zu der Geschichte der Sadduzäer zu schreiben. Unter Joh Hyrkan I. kam es zu einem schweren Zerwürfnis zwischen dem hasmonäischen Königshaus und Pharisäern; unter Alexander Jannai (103-76 v. Chr.) spitzte sich das Verhältnis weiter zu, vor allem, als dieser nach einer verlorenen Schlacht gegen den Seleukidenkönig Demetrios mitten in Jerusalem 800 Kriegsgefangene vornehmlich aus den Reihen der Pharisäer kreuzigen ließ (Josephus, BJ 1,97). Unter seiner Gemahlin und Nachfolgerin Salome Alexandra ändert sich das Bild; Pharisäer nehmen gewichtigen Einfluss auf ihre Regierung. Ob sie auch zur Zeit Jesu solche politische Aktivität entfaltet haben, ist ebenso umstritten wie die Frage nach ihrer Verbreitung im Volk und ihrem Einfluss auf das Volk.
Pharisäer galten als verständige Thorainterpreten, wobei Interpretation hier Exegese und Weiterentwicklung in gleichem Maße umgreift. Dem Bestreben, ganz Israel zu der in der Thora intendierten kultischen Reinheit des Gottesvolkes zu führen, verdankt sich die Übertragung der ursprünglich auf Priester bezogenen Reinheitsvorschriften auch auf den Alltag der Laien. Josephus und das Neue Testament schreiben ihnen die Vorstellung der doppelten Auferweckung der Toten zu, der Guten zum ewigen Leben, der Bösen zum Gericht.
Soziologisch läßt sich erkennen: 1. Die Pharisäer sind keine Priester, sondern Laien; 2. sie entstammen nicht den wirtschaftlich führenden Schichten des Landes; 3. sie sind, anders als die Sadduzäer (s. zu Mk 12,18-27) nicht auf Jerusalem konzentriert, sondern begegnen auch in Galiläa als Teil der dortigen Bevölkerung. Ob es auch Pharisäer in der jüdischen Diaspora gegeben hat, ist historisch umstritten.
Das Verhältnis der Pharisäer zur Jesusbewegung war nicht von Anfang an so gespannt, wie es uns die Evangelien darstellen:
1. Jesus gehörte wie die Pharisäer nicht der Oberschicht an, wie die Pharisäer hatte er den Anspruch, das ganze Volk Israel zu sammeln. Unterscheidungspunkt war allerdings das jeweilige Reinheitsverständnis, und entsprechende Konflikte sind uns durch das Markusevangelium (Mk 2,13-28) wie durch die Logienquelle (Lk 11,3951) bezeugt.
2. In der Bejahung der Totenauferweckung kommt Jesus prinzipiell mit den Pharisäern überein (Mk 12,18-27).
3. Pharisäer werden in den ältesten Passionsberichten nicht als Gegner Jesu erwähnt.
4. Lukas erwähnt christliche Pharisäer (Apg 15,5), deren Position er nicht teilt, denen er aber auch nicht das Christsein abspricht.
5. Es sind vermutlich Pharisäer, die dagegen protestieren, als der sadduzäische Hohepriester Ananus 62 n. Chr. den Herrenbruder Jakobus steinigen läßt (JosAnt 20,200). Ananus stolpert über diesen Fall.
Literatur zur Weiterarbeit: Stemberger, G., Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart 1991.

18,15-17 Segnung der Kinder Mk 10,13-16
18,18-23 der reiche Obere Mk 10,17-22
18,24-30 Lohn der Nachfolge Mk 10,23-31
18,31-34 dritte Leidensankündigung Mk 10,32-34
18,35-43 Blindenheilung Mk 10,46-52
19,1-10 Zachäus SoG
19,11-27 die anvertrauten Pfunde Q - Mt 25,14-30

Der Abschnitt ist durch die Frage nach dem Zeitpunkt der Gottesherrschaft zusammengehalten; dass Lk 19,11-27 an dessen Ende steht, ist damit begründet, dass Lukas vor einem Missverständnis des Einzuges Jesu in Jerusalem warnen will, weswegen die Szene in relativer geographischer Nähe spielen muss. Im Inneren des Abschnittes ist die Reihenfolge durch die Markusvorlage vorgegeben; die Integration des bekannten und wirkungsgeschichtlich problematischen Textes Lk 18,9-14 an die jetzige Stelle ist dadurch bedingt, dass in diesem Text wie in Lk 18,15-17 analog zwei Haltungen als Kontrast gegenüber gestellt werden. Die Einordnung der Zachäusperikope verdankt sich dem Ortsnamen "Jericho".

Lk 9,51 - 18,14 bezeichnet literarkritisch die große lukanische Einschaltung, d.h. in diesem Abschnitt werden vorzugsweise Materialien aus Q und aus dem Sondergut integriert, bevor Lukas ab Lk 18,15 wieder der Markusvorlage folgt. Kompositionell ist aber der Übergang von Lk 18,14 zu Lk 18,15 nicht wesentlich.

19,28-24,53 Jesus in Jerusalem

Lk 19,28-21,38 Die letzten Tage Jesu vor der Passion

19,29-40 Einzug in Jerusalem Mk 11,1-11
19,41-44 Klage über Jerusalem SoG
19,45-48 Tempelreinigung Mk 11,15-19
20,1-8 Vollmachtsfrage Mk 11,27-33
20,9-19 Winzergleichnis Mk 12,1-12
20,20-26 Kaisersteuer Mk 12,13-17
20,27-40 Sadduzäerfrage nach Auferstehung Mk 12,18-27
20,41-44 Davidssohnfrage Mk 12,35-37
20,45-47 Warnung vor den Schriftgelehrten Mk 12,38-40
21,1-4 Scherflein der Witwe Mk 12,41-44
21,5-36 Endzeitrede Mk 13
21,37f. Jesus im Tempel  

Lukas folgt in Lk 19,28-24,12 dem Markusaufriss, integriert jedoch zwei zusätzliche Texte, Lk 19,41-44; 23,27-31, nämlich das erste (Lk 19,41-44) und das letzte (Lk 23,27-31) Wort Jesu über Jerusalem. Beide Texte klagen über dessen selbstverschuldeten Untergang, begründet in der Ablehnung Jesu. Daneben sind schon für Lk 19,28-21,37f. einige Eingriffe in die Markusvorlage zu erwähnen:

  1. Beim Einzug Jesu nach Jerusalem jubelt nicht das Volk, es jubeln die Jünger. Innerhalb des Einzuges wird ein Bezug auf Worte der Weihnachtsgeschichte hergestellt. Die Verfluchung des Feigenbaumes entfällt.
  2. Lukas gestaltet die letzten Tage vor der Passion zu einer dem vorherigen Wirken Jesu in Israel gleichwertigen Zeitspanne. Der Messias lehrt im Tempel das Gottesvolk (Lk 19,47f.).
  3. Lukas interpretiert die Jerusalemer Streitgespräche neu, nämlich als Warnung vor der kommenden Katastrophe Jerusalems, wie auch die große Endzeitrede Lk 21,4-36 um der Thematik von Lk 21,20-24 willen (Zerstörung Jerusalems) nicht mehr nur an die Jünger, sondern an das Volk gerichtet ist.

Eschatologie im Lukasevangelium - Änderungen von Lk 21,5-36 gegenüber Mk 13:

  1. Lukas fragt nicht mehr nach der eschatologischen Erfüllung, sondern nach innerweltlichem Geschehen.
  2. Die Ankündigung der nahen Parusie wird in Lk 21,8f. als Missverständnis charakterisiert. Die Tempelzerstörung soll aus dem eschatologischen Zusammenhang herausgelöst werden (sie liegt ja auch schon 10 - 20 Jahre zurück).
  3. Bedrängnis und Verfolgung der Gemeinde werden in Lk 21,12 vor die aus Mk übernommenen Schrecknisse (Krieg der Völker, Hunger, Pest etc.) gestellt; damit werden die Endereignisse nochmals hinausgeschoben.
  4. Lk 21,20-24 blickt auf die geschehene Tempelzerstörung zurück. Es ist nicht vom "Greuel der Verwüstung" die Rede.
  5. Die Parusie ist ein Ereignis in unbestimmter Ferne. Das hat auch sonst Änderungen im Evangelium zur Folge: Im Terminwort Lk 9,27 ist gegenüber Mk 9,1 die Wendung "kommend in Kraft" gestrichen. Die Antwort an die Pharisäer Lk 17,20f. ist mit den Stichworten "mitten unter euch" Hinweis auf die Person Jesu; in der Jüngerbelehrung kommt als erste Problemanzeige der Satz Jesu "es werden Tage kommen, da werdet ihr begehren, einen der Tage des Menschensohnes zu sehen, und werdet sie nicht sehen". Die Aussage der baldigen Wiederkunft des Menschensohnes in Mk 14,61f. ist umgewandelt in eine Aussage über seine himmlische Existenz Lk 22,69.

22,1-24,53 Die lk Passions- und Ostergeschichte

22,1f. Todesbeschluss Mk 14,1f.
22,2-6 Verrat des Judas Mk 14,10f.
22,7-13 Findung des Abendmahlssaales Mk 14,12-16
22,14-20 Einsetzung des Abendmahles Mk 14,22-25
22,21-23 Ankündigung des Verrates Mk 14,17-21
22,24-38 Gespräche mit den Jüngern Mk 10,41-45
22,39-46 Gethsemane Mk 14,32-42
22,47-53 Verhaftung Mk 14,43-52
22,54-62 Verleugnung Mk 14,53f.66-72
22,63-71 Sanhedrinverhör Mk 15,55-65
23,1-25 Jesus vor Pilatus und Herodes Antipas Mk 15,1-15
23,26-31 Auf dem Weg zum Kreuz  
23,32-38 Kreuzigung und Verspottung Mk 15,20b-32
23,39-43 die beiden Schächer Mk 15,32b
23,44-46 Jesu Tod Mk 15,33-38
23,47-49 Zeugen des Todes Jesu Mk 15,39-41
23,50-56 Grablegung Mk 15,42-47
     
24,1-12 Auferstehung Mk 16,1-8
24,13-35 Emmaus SoG
24,36-49 Erscheinung vor den Elf SoG
24,50-53 Himmelfahrt am Ostersonntag Abend
vgl. Apg 1,4-11 Himmelfahrt erst nach 40 Tagen
SoG

Für die lukanische Passionsgeschichte wird gelegentlich neben der Markusvorlage auch eine eigene Sonderquelle vermutet, m.E. nicht zu Recht. An Änderungen gegenüber der Markusvorlage ist zu vermerken:

  1. Lukas gestaltet die Szene im Abendmahlssaal zu einer weiteren "Gastmahl"-Szene aus.
  2. Neu eingebracht wird die Beschuldigung, Jesus habe zur Steuerverweigerung aufgerufen (Lk 23,2). Diese Beschuldigung ist falsch, wie der Leser aus Lk 20,20-26 weiß.
  3. Herodes Antipas wird als Zeuge der Unschuld Jesu benannt (Lk 23,6-12), der Schuldanteil des Pilatus reduziert: Er fungiert dreimal als Zeuge der Unschuld Jesu (Lk 23,4.14.22). Die Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten (Mk 15,16-20a) entfällt; Juden sind als Subjekte der Kreuzigung gedacht (Lk 23,25.33).
  4. Zu Lk 23,27-31 s.o.
  5. Das Verhalten des einen Schächers wird als Bekehrung angesichts des Sterbens Jesu, dieser damit als ein weiser Mann gezeichnet, die christliche Religion damit als eine auch für Gebildete nicht zu verachtende Bewegung.
  6. Die Ostererzählungen sind im Lukasevangelium in und bei Jerusalem lokalisiert, nicht in Galiläa. In Lk 24,1-12 wird dementsprechend die Ankündigung des Engels am Grabe abgeändert (Lk 24,6f.), ferner ist von der Verkündigung der Frauen an die Jünger (diff Mk 16,8) und von deren Unglauben die Rede. Lk 24,13-35 hilft den Jüngern und den Lesern die Passion als notwendigen, weil schriftgemäßen Durchgang zur Herrlichkeit des Auferstandenen verstehen, Lk 23,36-49 korrigiert Missverständnisse der Auferweckung Jesu, Lk 24,50-53 beschließt mit der Aufnahme Jesu in den Himmel und dem Lobpreis Gottes durch die Jünger das Lukasevangelium, "sie lobten Gott" sind dessen letzte Worte.

    Pontius Pilatus

    Pilatus gehörte dem römischen Ritterstand an, dem nächsthöheren Stand nach dem princeps und den Senatoren, und war Parteigänger des judenfeindlichen Sejan, des Präfekten der Prätorianergarde, der allerdings seinerseits nach einem Versuch der Verschwörung i. J. 31 n. Chr. hingerichtet wurde. Pilatus trug, wie eine 1961 in Caesarea gefundene lateinische Inschrift zeigt, den Titel "praefectus Iudaeae".
    Um die uns erkennbare Karriere des Pilatus und deren Ende zu verstehen, ist ein kurzer Blick auf das System römischer Provinzialverwaltung notwendig. Man unterscheidet zwischen kaiserlichen und senatorischen Provinzen sowie Provinzen niederen Ranges:
    * kaiserliche Provinzen werden durch einen legatus Augusti pro praetore oft über mehrere Jahre hinweg verwaltet, in ihnen dürfen Truppen stationiert sein, über die der Kaiser oberster Befehlshaber ist. Der Kaiser entscheidet, wer legatus Augusti wird.
    * senatorische Provinzen werden durch einen Prokonsul verwaltet, der jeweils nur ein Jahr im Amt bleibt und von den Senatoren in Rom bestimmt wird. In ihnen dürfen keine Truppen stationiert sein (deren oberster Befehlshaber ist ja der Imperator, der "Kaiser").
    * Kaiserliche Provinzen minderen Ranges werden durch einen Praefekten bzw. Prokurator verwaltet, der wiederum dem Prokonsul oder Legaten einer benachbarten Provinz unterstand. Diesen Status hatte die Provinz Judäa seit 6 n. Chr.; er wird für das Ende des Pilatus folgenreich.

    Die Berichte über den Pilatusprozess in den Evangelien tendieren dazu, ihn auf Kosten der jüdischen Handlungsträger weitmöglichst von aller Schuld am Tod Jesu zu entlasten - in der äthiopischen Kirche ist Pilatus deshalb sogar heilig gesprochen worden. Eine Konfrontation mit der geschichtlichen Wirklichkeit wird für uns am ehesten möglich durch das erste Vorkommnis, das Josephus von ihm berichtet: "Einst nun ließ er eine Anzahl verhüllter Bildnisse des Caesars, welche die Römer signa, Feldzeichen, nennen, zur Nachtzeit nach Jerusalem bringen. Kaum aber graute der Tag, als eine hochgradige Aufregung sich der Stadt bemächtigte. ... Alle machten sich auf den Weg nach Caesarea zu Pilatus, den sie flehentlich baten, die Bildnisse aus Jerusalem entfernen und an ihren althergebrachten religiösen Satzungen nicht rütteln zu wollen. Da Pilatus aber die Bitte abschlug, warfen sie sich zu Boden und blieben fünf Tage und ebenso viele Nächte liegen, ohne sich zu rühren. 3. Am folgenden sechsten Tage nahm Pilatus in der großen Rennbahn auf einer Tribüne Platz und ließ das Volk herbeirufen, als wolle er ihm Bescheid erteilen, gab aber dann den Soldaten, die vorher verständigt waren, ein Zeichen, die Juden mit den Waffen in der Hand zu umzingeln. So von einer dreifachen Reihe Bewaffneter eingeschlossen, gerieten die Juden über den unerwarteten Anblick zunächst in gewaltige Bestürzung. Als aber Pilatus drohte, er werde sie niedermetzeln lassen, wenn sie die Bildnisse des Kaisers nicht bei sich aufnähmen, und den Soldaten einen Wink gab, ihre Schwerter zu entblößen, fielen die Juden wie auf Verabredung sämtlich nieder, boten den Nacken dar und erklärten mit lauter Stimme, sie wollten sich lieber umbringen lassen als das Gesetz übertreten. Über dieses heldenmütige Eintreten des Volkes für seine Religion erstaunte Pilatus und gab Befehl, die Feldzeichen sofort aus Jerusalem wegzubringen" (Josephus, BJ 2,169-171).
    Später rief Pilatus neue Unruhen hervor, als er einen Teil des Tempelschatzes für den Bau einer Wasserleitung verwendete. Als er eines Tages nach Jerusalem kam, umdrängte das Volk schreiend und schimpfend seinen Richterstuhl. "Er aber hatte von dem beabsichtigten Auflauf zuvor Kunde erhalten und bewaffnete Soldaten in bürgerlicher Kleidung heimlich unter der Menge verteilt mit dem Befehl gegen die Schreier nicht das Schwert zu gebrauchen, aber mit Knitteln auf sie einzuhauen. Als er nun vom Richterstuhl herab das Zeichen gab, kamen viele Juden teils unter den Schlägen der Soldaten, teils dadurch um, dass sie von ihren eigenen Landsleuten auf der Flucht zertreten wurden. Den Schrecken über das traurige Schicksal der Getöteten aber brachte das Volk alsbald zum Stillschweigen" (Josephus, BJ 2,175-177).
    Auch Philo charakterisiert ihn als "unerbittlich und rücksichtslos" (Leg. 301), und Lk 13,1 klingt nicht viel besser, wenngleich wir dieses Ereignis historisch nicht anderweitig nachweisen und deshalb auch nicht im einzelnen rekonstruieren können.
    Ein Übergriff des Pilatus gegen die Samaritaner führte im Winter 36/37 zu seiner Absetzung durch den Statthalter Syriens. Einer, der sich selbst als Messias ausgab, hatte die Samaritaner aufgefordert, mit ihm auf den Berg Garizim zu steigen, dort wollte er dem Volk die von Mose dort vergrabenen Kultgeräte zeigen. Als das Volk bewaffnet auf den Berg ziehen wollte, besetzte Pilatus den Weg zur Höhe mit Reiterei und Fußvolk. Dabei hatte er den Fanatismus des Volkes unterschätzt. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen den aufgeputschten Frommen und den kaiserlichen Truppen, die einige der Aufständischen niederschlugen und die Mehrzahl der Anführer in die Flucht trieben. Pilatus aber ließ die 'Vornehmsten und Einflussreichsten' inhaftieren und hinrichten. Einflussreiche Samaritaner, die als Abgeordnete des Hohen Rats ihres Volkes bei Lucius Vitellius, dem vorgesetzten Statthalter von Syrien, vorstellig wurden, verklagten ihn, so dass sich Pontius Pilatus in Rom verantworten musste, möglicherweise unter der Anschuldigung der Amtsanmaßung, der ungerechtfertigten Kriegführung. In Rom ist er nach Euseb zum Selbstmord gezwungen worden. Sein Nachfolger als praefectus Iudaeae wird Marcellus, von dem es solche Dinge nicht zu berichten gab.


Theologische Grundgedanken des lukanischen Doppelwerkes

1. Die Frage nach der Geschichte

  • Durch das Zurücktreten der Naherwartung ist die Frage nach dem Sinn der weiterlaufenden Geschichte gestellt. Mögliche Antwort: Das Evangelium soll erst aller Welt verkündigt werden, vor allem in der Reichshauptstadt Rom.
  • Angesichts der zeitlichen Entfernung vom Beginn des Geschehens stellt sich die Frage, wie die Kontinuität zur Anfangszeit gewahrt werden kann. Wahrung der Kontinuität bedeutete Wahrung der Identität.

So zeigt Lukas: Die Geschichte der Kirche ist eine von Gott gewollte und eine von Gott gewirkte Geschichte.

Conzelmann unterschied für die Geschichtsdarstellung im lukanischen Doppelwerk drei Perioden: die Zeit vor Jesus, die Zeit Jesu, die Zeit der Geschichte. Die Zeit vor Jesus ist die auf Jesus hinführende Zeit des fordernden und verheißenden Gotteswillens; die Zeit nach Jesus ist die Zeit der Sammlung der Kirche und der Trennung von dem nicht an Jesus glaubenden Judentum, dem allerdings die Tür zu Jesus offenbleibt. Zwischen den ersten beiden Phasen wird die Zäsur durch Lk 16,16 gebildet, zwischen der zweiten und der dritten Phase durch Apg 1,11.12.
Conzelmanns Unterscheidung zwischen der Zeit Jesu und der Zeit der Kirche (H. Conzelmann, Mitte der Zeit, 158) ist mit dem Hinweis auf das in der Zeit der Kirche weiterlaufende Erfüllungsgeschehen kritisiert worden. Doch empfängt die Zeit der Kirche von der Jesuszeit ihre Fundierung und Normierung: Der Begriff "heute" (vgl. Lk 4,21) wird im Evangelium anders verwendet als in Apg, nämlich theologisch gefüllt; die Apostel dagegen tun ihre Wunder im Namen Jesu; die vita christiana wird i. w. im Evangelium entfaltet; die Predigt der Apostel nach Apg bringt hierin nichts wesentlich Neues mehr hinzu.

Literatur zur Weiterarbeit:
Conzelmann, H., Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, BHTh 17, 4. Aufl. Tübingen 1962.

2. Lehre von der Kirche und Israel

Die Anschauung von der Kirche (die Ekklesiologie) hat Lukas früher (bis 1970) den Vorwurf des Frühkatholizismus eingetragen: Er ersetze die Naherwartung durch Heilsgeschichte und schaue auf das Leben Jesu als eine vergangene Epoche zurück (Conzelmann), habe damit aber den ursprünglichen Charakter des Kerygma preisgegeben (Bultmann), wie auch die Vorstellung des Sühnetodes nicht entfaltet sei. Apostel seien Traditionsgaranten, der Geist werde an das Amt gebunden; es gelte nicht mehr: Jeder Christ ist ein Charismatiker (Käsemann).
Es hat sich jedoch ein Mehrfaches gezeigt: 1. Die Heilsgeschichte ist keine Erfindung des Lukas, sondern entstammt breiter urchristlicher Tradition; 2. Wohl stehen die Apostel als Augenzeugen der irdischen vita Jesu für die Richtigkeit der überlieferten kirchlichen Tradition gerade - Paulus ist kein Apostel, weil er kein Augenzeuge ist - aber der Gedanke der apostolischen Sukzession fehlt völlig; Lukas wollte die Kontinuität der Kirche auf ihrem weiteren Weg durch die Geschichte nicht durch Bindung an Ämter und Institutionen sichern. Gott selbst würde dafür sorgen, Apg 20,32. Ferner 3. Der Geist wirkt durch das Wort. 4. Der Glaube ist nicht durch die Geschichte verifizierbar, sondern auch Lukas berichtet die Geschichte Jesu mit dem Ziel der Verkündigung.
Freilich haben sich aufgrund der Rückbesinnung auf die jüdischen Wurzeln des Christentums neue schwierige Fragen gestellt. Statt des lukanischen Geschichtsverständnis und seiner Ekklesiologie steht nunmehr lukanische Israeltheologie zur Debatte, eine Israeltheologie freilich, die Rückwirkungen auf die Ekklesiologie hat.
Die Spannbreite der Beschreibungen lukanischer Israeltheologie reicht von dem Antisemitismus-Verdikt bei S. Sandmel und J. T. Sanders bis hin zur Vorstellung von J. Jervell, die heilsgeschichtliche Kontinuität liege nicht nur im Handeln Gottes, sondern auch in dem Gottesvolk, an dessen Verheißungen die Heidenchristen partizipierten, und ist in dem Nebeneinander positiver wie negativer Aussagen zum Verhalten Israels begründet.
Lukanische Israeltheologie ist untrennbar mit der lk Konzeption der Heilsgeschichte und dem lukanischen Verständnis der Heiligen Schrift Israels verknüpft. Grundlegend für Lukas ist die zugleich christologische und soteriologische Bedeutung der Aufweckung Jesu von den Toten: Jesus wird zum Herrn und Christus gemacht (Apg 2,36) und damit als das Zeichen Gottes bestätigt; doch zugleich verbürgt das "Faktum" der geschehenen Auferweckung, dass Gott jetzt Heil verwirklichen will (Apg 26,6-8).
Das Heil gilt Israel (Lk 1,54.68.78) in allen seinen Gliedern: die kranke Frau und der Zöllner Zachäus bekommen Heilung "denn auch sie sind Kinder Abrahms". Es gilt zuerst Israel (Lk 2,32; Apg 3,26; 13,46), und so beginnt Paulus bei seinen Reisen mit der Verkündigungsarbeit grundsätzlich in den Synagogen. Den Heiden gilt das Heil in Ausweitung des Israel geltenden Heiles gemäß der biblischen Verheißung des Gottesknechtes i.S. v. Jes 42,6; 49,6 und des Völkerwallfahrtsmotives i.S. v. Jes 2,1-4 (Lk 2,29-32).
Jes 42,6 Ich der Herr, habe dich, den Knecht Gottes, gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand und behüte dich und mache dich zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und die, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.
Jes 49,6 Es ist mir zuwenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe idhc auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.
Jes 2: Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen. Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem.
Der auferweckte Jesus ist Ur-Repräsentant des Gottes Israels gegenüber seinem Volk und unter den Heiden. Durch ihn kann jeder, der glaubt, unbeschadet seiner Herkunft aus Israel oder aus den Völkern die Vergebung der Sünden erlangen; auch den Heiden wird die selbe Gabe des Heiligen Geistes als Erfüllung der Weissagung Joel 3,1-6 gegeben (Apg 10,47; 11,15). Von daher kann der Auftrag zur Heidenmission auf den auferstandenen Christus zurückgeführt werden (Lk 24,47; Apg 1,8; 9,15). Israel als Ganzes wird durch die Verkündigung des Petrus gerufen, Zeuge Gottes gegenüber den Heiden zu sein (Apg 3,25f.). Wichtig ist für Lukas zweierlei:
1. In all diesen Schritten gilt Gott als Subjekt dieser Geschichte;
2. Alle wesentlichen Momente dieser Geschichte sind durch die Heilige Schrift Israels angekündigt.
Das Verhalten des rechten Israeliten i.S. des Lukas besteht darin, im richtigen Verständnis der Schrift die Kontinuität zwischen dem Glauben an Christus und der alttestamentlichen Botschaft wahrzunehmen und damit anzuerkennen, dass Gott nunmehr Neues in der Geschichte Israels beschlossen hat, nämlich den Einbezug der Heiden. An dieser Aufgabe müssen auch die Jünger erst lernen (Apg 11,18), und an ihr droht der sich verschließende Teil Israels zu scheitern; deshalb wird er gemahnt, sich nicht von sich aus gegen Gott zu stellen (Apg 4,19; 5,34-39), sich nicht mit den Ungehorsamen der Geschichte Israels gleichzustellen (Apg 7,35.39.51) und sich so als verstockt zu erweisen wie die Väter (Apg 28,26f.).
Ein Teil der Israeliten kommt zum Glauben - nur bei Israeliten berichtet Lukas anfänglich von Massenbekehrungen (Apg 2,41; 4,4), nicht bei Heiden -, ein anderer Teil verweigert sich. Das bekannte Nebeneinander der unterschiedlichen Verhaltensweisen der Volksmenge Israels ist wohl am ehesten im Sinne des kirchengeschichtlichen Nacheinander zu deuten: die anfangs keineswegs erfolglose Israelmission, verstanden als endzeitliche Sammlung Israels, wurde zunehmend von jüdischer Seite aus behindert, und diese Verhärtung der Fronten bewirkt, dass von der lk Gemeinde aus die Bekehrung ganz Israels nicht mehr erwartet und deshalb wohl auch keine planmäßige Israelmission mehr betrieben wird. Das lukanische Doppelwerk wäre der Versuch, die Kontinuität der Kirche zu Israel angesichts des Scheiterns der Israelmission heilsgeschichtlich zu definieren und so den jetzigen Status der überwiegend aus ehemaligen Heiden bestehenden Kirche als gottgewollt zu legitimieren. Aus diesem eigenen Gegenwartserleben läßt sich die Härte der lukanischen israelkritischen Aussagen insgesamt durchaus erklären. Aber von einer bleibenden Verwerfung des nicht an Jesus gläubigen Israel spricht Lukas nicht!

Literatur zur Weiterarbeit
Käsemann, E., Amt und Gemeinde im Neuen Testament, wiederabgedruckt in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 109-134.
Kümmel, W. G., Lukas in der Anklage der heutigen Theologie, in: W. G. K., Heilsgeschehen und Geschichte Bd. 2, Gesammelte Aufsätze 1965-1977, hg. v. E. Gräßer und O. Merk, MThSt 3, Marburg 1978, 87-100.
Sanders, J. T., The Jews in Luke-Acts, London 1987.
Sandmel, S., Anti-Semitism in the New Testament?, Philadelphia 1978.
Jervell, J., , Luke and the People of God. A New Look at Luke-Acts, Minneapolis 1972.
Jervell, J., Gottes Treue zum untreuen Volk, in: C. Bussmann, W. Radl (Hg.), Der Treue Gottes trauen. Beiträge zum Werk des Lukas, FS G. Schneider, Freiburg, Basel, Wien 1991, 15-27.
Roloff, J., Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Göttingen 1993.

3. Das Christentum als neue religiöse Elite

Bei Lukas herrscht stärker als bei Markus oder Matthäus das Bemühen vor, die Christen in der Hinsicht zuzurüsten, dass sie ihre Religion auch einem gebildeten Heiden als Anstoß und Alternative empfehlen können. Diesen Ziel sind mehrere Aspekte dienstbar gemacht: 1. die politische Apologetik, 2. die Zeichnung Jesu und des Heidenapostels Paulus als Weisen 3. das lukanische Menschenbild sowie 4. die Unterscheidung der christlichen Lebenshaltung von einer unreflektierten Lebensweise.
1. Jesus Christus stirbt politisch unschuldig. Es ist nicht richtig, wie seine Gegner ihm gemäß Lk 23,2 unterstellen, dass er zur Steuerverweigerung aufgerufen habe. Die anderslautende Antwort Jesu Lk 20,26 ist vor den Ohren des Volkes ergangen. Er hat nicht zur Steuerverweigerung aufgerufen, wie ihm nach Lk 23,2 unterstellt wird; die Unruhe im römischen Reich ist vielmehr durch die Gegner gekommen. Auch Paulus ist kein Aufrührer. Vielmehr sind es seine Gegner, denen Lukas die Tendenz zum Aufruhr und damit die Gefährdung der Pax Romana vorhält Entsprechend wohlwollend verhalten sich die römischen Behörden; Pilatus will Jesus freilassen, die späteren Statthalter bewahren Paulus mehrfach vor Übergriffen seiner jüdischen Gegner. Die kritischen Äußerungen u.a. über Gallio (Apg 18,12-17) und Antonius Felix (Apg 24,22-27) trüben dieses Bild nur bedingt, zeigen aber: Es gibt das Neben- und Nacheinander von korrekten und korrupten Inhabern staatlicher Gewalt. So wenig Christen von sich aus das Recht zur Auflehnung gegen Obrigkeiten haben, so sehr müssen sie auch mit deren Fehlverhalten rechnen.
2. Jesus wird als der vorbildliche Weise geschildert. Er lässt sich nicht von dem Erfolg bei der Masse hinreißen, sondern sucht die Stille im Gebet (Lk 5,15f.). Vor allem sein Sterben ist das Sterben eines Weisen: Anders als bei den Seitenreferenten kommt bei Lukas einer der Schächer zur Einsicht in die eigene Verfehlung. An Jesu Sterben geht dem Menschen die Erkenntnis seiner eigenen Situation auf. Der gebildete Leser, der von der momentanen Situation des Schächers abstrahieren kann, merkt: an Jesus ist wirklich die Erkenntnis zu gewinnen, die zu einem neuen, dem Guten hingewandten Leben zu führen vermag. Die Reaktion des Hauptmanns, dieser sei ein Gerechter, ein Frommer gewesen, und das Verhalten des Volkes weisen ebenfalls in diese Richtung, zusätzlich die Vergebungsbitte, die, wenn textkritisch sekundär, doch mit gutem Empfinden an die Stelle Lk 23,34 gesetzt worden ist. Hierher gehören Jesu und des Paulus Begegnungen mit der politischen, intellektuellen oder auch religiösen Elite - berühmt natürlich Apg 17, wo der lukanische Paulus den Stoikern und Epikureern begegnet und den Stoiker Aratos, Phaiomena 5,5 zitiert: wir sind seines Geschlechtes.
3. Lukanische Anthropologie.
Der Mensch ist nach Lukas nicht einer, der gerettet, sondern einer, der korrigiert werden muss, kein salvandus, sondern ein corrigendus. Der Mensch ist nicht von einer transsubjektiven Sündenmacht bestimmt, sondern kommt in den Blick als sein Leben individuell gestaltendes, verantwortliches Wesen. Bei der Bekehrung werden die Kräfte, das Wollen und die Entscheidung des Menschen angesprochen. Bekehrung zum Christentum und Bewährung des Christseins ist Vollzug des dem Menschen als Menschen eignenden Vermögens zur rechten Erkenntnis und sind zugleich Bewährung wahren, reflektierten Menschseins. Zentral für Lukas ist der Gedanke, dass dem Menschen nur einmal das Heil angeboten wird, dass er nur einmal Gelegenheit zur Umkehr bekommt, und dass sich an seiner Stellungnahme in dieser Situation sein eschatologisches Geschick entscheidet. Das gilt für Juden und Heiden (Apg 17,30) und ist auch für den Christen eine ernste Mahnung (Lk 14,15-24). Das Verhalten der Jerusalemer Juden gegenüber dem irdischen Jesus wird mit dem Unwissenheitsmotiv entschuldigt (Apg 3,17); später wird diese Unwissenheit nicht mehr zugestanden. Aber auch von den heidnischen Städten wird jeweils nur einmal von der missionarischen Verkündigung berichtet (Vgl. Apg 14,21f.; 15,36; 18,23; 20,2: Nirgends wird von einer erneuten missionarischen Wendung nach außen gesprochen. Die einzige Ausnahme ist Ephesus, vgl. Apg 18,19f.; Apg 19,2-40). Dieser Zug will die Ernsthaftigkeit der christlichen Heilsverkündigung unterstreichen.
Literatur zur Weiterarbeit: J.-W. Taeger, Der Mensch und sein Heil. Studien zum Bild des Menschen und zur Sicht der Bekehrung bei Lukas, StNT 14, Gütersloh 1982.
4. Das Christentum wird von der unreflektierten Lebensweise der unverständigen Masse unterschieden. Es gilt, nicht nur äußerlich Jesus zu bewundern, sondern sein Wort zu hören und zu bewahren (Lk 11,27f.), es gilt, sich zuvor die Konsequenzen einer Bekehrung zum Christentum zu verdeutlichen (Lk 14,25-33); die Habsucht des reichen Kornbauern, der seine eigene Endlichkeit vergisst, kennzeichnet ihn als Toren (Lk 12,13-21), wie der lukanische Jesus auch andernorts vor dem Vergessen der Endlichkeit (Lk 12,54-13,9) und vor falscher Sicherheit (Lk 13,22-30) warnen muss.

4. Arm und Reich

Umstritten ist, ob Lukas zum freiwilligen Almosen ermahnt (Horn) oder einen geregelten innergemeindlichen Besitzausgleich zwischen arm und reich erstrebt (W. Schottroff, W. Stegemann, Jesus von Nazareth, 150). Nach F. W. Horn wendet sich Lukas vornehmlich an Besitzende und sucht sie zu Almosen zu motivieren und will sie vor der "Ungerechtigkeit" warnen, die im eigennützigen Umgang mit Besitz beschlossen liegt: Mitgliedschaft in der Gemeinde oder gar Evangeliumsverkündigung und eigennützige finanzielle Interessen kollidieren miteinander (vgl. Apg 8,20-23). Habsucht lässt die eigene Vergänglichkeit vergessen (Lk 12,16-21); die Verachtung des Armen rächt sich im Gericht Lk 16,19-31). Positives Vorbild sind der Besitzverzicht der Jünger und die freiwillige Liebesgemeinschaft der Urgemeinde Apg 2,42-47; 4,32. Horn kommt es auf die Freiwilligkeit der Gabe an (Apg 5,4).

Literatur zur Weiterarbeit:
Horn, F. W., Glaube und Handeln in der Theologie des Lukas, GTA 26, Göttingen 1983.
Schottroff, L., Stegemann, W., Jesus von Nazareth - Hoffnung der Armen, 3. Aufl. Stuttgart 1990.