Lektion 1: Die Evangelienüberlieferung - Einführung

Der zeitliche Abstand zwischen Jesus und den Evangelien
Die Notwendigkeit der Rückfrage nach dem irdischen Jesus
Ein kurzer Überblick über das in diesem Bibelkundekurs vorausgesetzte Bild des historischen Jesus
Der Prozeß der Überlieferung der Worte und Taten von Jesus

Der zeitliche Abstand zwischen Jesus und den Evangelien
Jesu öffentliches Wirken und sein Lebensende sind in die Zeit um 30 n. Chr. anzusetzen, das Markusevangelium ist nach ältester kirchlicher Tradition erst nach dem Tod des Petrus (um 64 n. Chr.) entstanden (Euseb, h.e. 3,39,15), die anderen Evangelien nach wissenschaftlichem Konsens noch später. So ist von vornherein wahrscheinlich, daß angesichts dieses langen Zeitraumes und der Veränderungen in ihm historische Erinnerung und ihre aktualisierende Interpretation eine unlösbare Verbindung miteinander eingegangen sind. Gerade die allerjüngste deutsche Geschichte zeigt, wie schnell sich die Problemlage verändern kann, in die hinein politisches und kirchliches Handeln sowie literarisches Schaffen zu verantworten ist.
Die wichtigsten Veränderungen zwischen der Zeit Jesu und der Zeit der Evangelisten seien kurz benannt:

1. Die ersten Christen erfuhren Jesus von Nazareth bald nach seinem Tod als Auferweckten; Gott hatte die Richtigkeit seiner Botschaft und seines Weges bestätigt. Das war ihnen Anlaß, seine Verkündigung fortzusetzen und zugleich über seine Rolle innerhalb des göttlichen Handelns überhaupt nachzudenken. U.a. in den hälthon-Worten (Mk 2,17b u.ö.) fand dieses Nachdenken über die Sendung Jesu seinen Ausdruck, bei denen teilweise wohl jesuanische Aussagen über das Wirken und Wollen Gottes transponiert wurden in Aussagen, die Jesu Wirken kennzeichnen sollten.

2. Das Christentum begann als innerjüdische Erneuerungsbewegung, die recht bald auch Nichtjuden in ihre Gemeinschaft einbezog. In die Verkündigungsarbeit mußte nunmehr auch die Lebenswelt der Nichtjuden einbezogen werden. So bedenkt Mk 10,10-12 die griechisch-römische Rechtslage, daß die Initiative zur Scheidung auch von der Frau ausgehen kann (ob dies auch für das frühe Judentum gilt, ist derzeit in der wissenschaftlichen Literatur heftig umstritten). Gehobeneren Bildungsansprüchen der nichtjüdischen Umwelt sucht vor allem Lukas mit seiner Darstellung Jesu und der Apostel gerecht zu werden.

3. Je länger je mehr mußte sich das Christentum mit verschiedenen kritischen Rückfragen auseinandersetzen, die geeignet waren, seine Existenzberechtigung in Zweifel zu ziehen. Zu klären waren sein Verhältnis zu den Glaubenstraditionen Israels ebenso wie sein Verhältnis zu der umgebenden heidnischen Umwelt, der es aufgrund seiner Distanz zur Verehrung der jeweils anerkannten städtischen bzw. staatlichen Gottheiten auffiel. Matthäus nimmt daher die Erfüllungszitate in sein Evangelium auf und betont die Thora-Treue Jesu (Mt 5,17-19) und seiner Gemeinde (Mt 24,20); auch Lukas zeichnet Jesus von Nazareth in die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel ein (Lk 2,29-35) und grenzt Jesus von dem Vorwurf des Aufrufs zur Steuerverweigerung (Lk 23,1-25) und Paulus von dem Vorwurf der Unruhestiftung ab (Apg 21,37-39; 24,1-21).

4. Zwischen 60 n. Chr. und 70 n. Chr. starben drei wichtige Figuren aus der Anfangszeit der Kirche: Petrus, Paulus und der Herrenbruder Jakobus. Der Gefahr des Traditionsabbruches galt es, durch eine relative Fixierung der Überlieferung zu wehren.

Neben den rein zeitlichen Abstand zur Geschichte des historischen Jesus tritt die Verschiedenheit des jeweiligen geistigen und religiösen Kontextes, in den hinein die Botschaft zu verkündigen ist. Reflex dessen ist die durchaus divergierende Präsentation Jesu in den Evangelien, die besonders eindrücklich wird, wenn man den Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu bei Markus (Mk 1,21-39), Matthäus (Mt 4,23-7,29) und Lukas (Lk 4,14-6,49) miteinander vergleicht.

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Die Notwendigkeit der Rückfrage nach dem irdischen Jesus

Die Notwendigkeit der Rückfrage nach Jesus wurde in der Alten Kirche anlässlich der Kritik an sog. apokrypher Evangelienliteratur virulent, aber erst in der Neuzeit auch auf die kanonisierten Bibeltexte bezogen, die zuvor als theologisch wie historisch irrtumslos gegolten hatten. Der Hamburger Orientalist Hermann Samuel Reimarus, Vertreter des englischen Deismus, hat 1774-1778 erstmals auch in den Evangelien zwischen der Lehre Jesu und den Aussagen seiner Jünger unterschieden und letztere als deren Betrugsmanöver deklariert, die die Massen von dem Scheitern der weltlichen Hoffnungen Jesu ablenken und den Jüngern weltliche Vorteile verschaffen sollte. Unabhängig von seiner Betrugstheorie blieb auch allgemein-theologisch die Aufgabenstellung gültig, sich das Werden der kirchlichen Verkündigung in Kontinuität und legitimer (vgl. Joh 16,13!) wie illegitimer Diskontinuität zu dem irdischen Jesus von Nazareth zu vergegenwärtigen.

Literatur zur Weiterarbeit
Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten, hg. v. G. E. Lessing, Braunschweig 1778.
Schweitzer, Albert, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 2. Aufl. Tübingen 1913 = 6. Aufl. 1951
Kümmel, Werner Georg, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, Freiburg/Breisgau, München, 1958, 2. Aufl. 1970.

Die Geschichte der neuzeitlichen Rückfrage nach dem irdischen Jesus kann hier nicht im einzelnen dargestellt werden. In einem langen Diskussionsprozeß haben sich vor allem die folgenden Kriterien für die Ermittlung ursprünglichen Jesusgutes als maßgeblich herauskristallisiert:
1. Das Kriterium der Eigenständigkeit Jesu innerhalb der pluralen frühjüdischen Traditionen und gegenüber der späteren kirchlichen Tradition (incl. des Kriteriums der sog. „störenden Überlieferung“: Auf Jesus kann zurückgehen, was späteren christologischen Stilisierungen und biblischen wie paganantiken Maßstäben eklatant [!] widerspricht.),
2. Das Kriterium der historischen Plausibilität: „Historisch ist in den Quellen das, was sich als Auswirkung Jesu begreifen läßt und gleichzeitig nur in einem jüdischen Kontext entstanden sein kann“ (G. Theißen, A. Merz, Der historische Jesus, 117).
3. Das Kriterium der Mehrfachbezeugung in unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Traditionsströmen (Mk, Q, Sondergut des Matthäus und Lukas, Thomasevangelium, Johannesevangelium) – wahrscheinlich authentisch nach diesem Kriterium ist vor allem der Begriff der Gottesherrschaft mit einigen ihm bei Jesus beigelegten Konnotationen -,
4. Das Kriterium der formgeschichtlichen Diversifikation. So sind Exorzismen Jesu etwa durch entsprechende Erzählungen belegt, aber auch durch die Logien-tradi-tion (Lk 11,20).
Dabei ist zu beachten, dass die Beurteilung der Authentizität eines Wortes oder einer Handlung Jesu nicht immer im Sinne einer ausschließlichen Alternative („originales Jesusgut – Gemeindebildung“) erfolgen kann, daß wir vielmehr auch mit Transformationen ursprünglichen Jesusgutes innerhalb späterer Gemeindebildung zu rechnen haben (s.o. das zu den hälthon-Worten Gesagte).

Literatur zur Weiterarbeit:
Theißen, Gerd, Merz, Annette, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 116-120.
Theißen, Gerd, Winter, Dagmar, Die Kri-terienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Freiburg (Schweiz), Göttingen 1997.

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Ein kurzer Überblick über das in diesem Bibelkundekurs vorausgesetzte Bild des historischen Jesus

Aufgrund des Kriteriums der störenden Überlieferungen können Taufe und Kreuzigung als historisch gelten. Im Sinne des selben Kriteriums wahrscheinlich authentisch sind eine Reihe hyperbolischer und schockierender Elemente in Jesu Wirken (vgl. Mk 1,17; 4,3-9*; 9,43* Lk 9,60; 16,1-8a*; 16,16*; Mt 20,1-16*; EvThom 98 u.a.), die i.w. Gottes bedingungslosen Zu-spruch, Gottes unbedingten Anspruch und die Dringlichkeit der Entscheidung thematisieren und sich verbinden lassen mit dem in Lk 11,20 formulierten spezifischen Selbstanspruch Jesu, daß in seinem heilenden Wirken sich die auf Erden erwartete, im Himmel jedoch schon wirkliche und im Lobpreis besungene Gottesherrschaft Bahn bricht, und daß sich an der Stellung des Menschen zu Jesus das eschatologische Geschick des Menschen im Gericht durch den kommenden Menschensohn entscheidet (Lk 12,8f.). So ist Jesus unter historischer Betrachtung m.E. ein charismatisch tätiger, ganz Israel und primär Israel zugewandter messianischer Prophet. Analogien zur Qumrangemeinschaft zeigen sich in Details der Ehehalacha und in der Radikalität des Sündenverständnisses, Analogien zu den Pharisäern im Selbstanspruch, ganz Israel für die kommende Gottesherrschaft sammeln zu wollen (s. den Exkurs zu Lk 18,9-14), Differenzen zur Qumrangemeinschaft sind durch Jesu weitgehendes Desinteresse am Kultus bedingt, Differenzen zu den Pharisäern liegen in Jesu offensivem Reinheitsverständnis beschlossen, demgemäß nicht die kultische Unreinheit, sondern die Reinheit das Gegenüber verwandelt (Berger). Analogien und Differenzen markieren somit eine teilweise auch eigenständige Position Jesu innerhalb des damaligen Judentums.
Daß Jesu Wirken nicht ohne Resonanz geblieben ist, läßt sich erklären aus dem Bestreben der verschiedensten Gruppen innerhalb des frühen Judentums, jüdische Identität unter den Bedingungen heidnischer Fremdherrschaft und im selbstkritischen Rückblick auf die eigene Geschichte zu formulieren und zu leben. Zu Jesu Tod führte die Verurteilung (vermutlich als [potentieller] Störer der öffentlichen Ordnung, vgl. Mk 11,15 bzw. Mk 13,1f.) durch Pontius Pilatus; historisch unklar ist, in welchem Umfang und in welcher Weise auch jüdische Instanzen beteiligt waren.

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Der Prozeß der Überlieferung der Worte und Taten von Jesus

Mit gewisser Wahrscheinlichkeit kann man davon ausgehen, daß u.a. um das Leidensgeschehen recht bald eine Folge von Jesuserzählungen entstand, galt es doch, die Kreuzigung des Initiators der eigenen Bewegung gegenüber Anfeindung und Spott als Geschehen mit eigenem Sinn zu begreifen. Ob die in 1 Kor 11,23 als vorpaulinisches Gut gekennzeichnete Abendmahlsüberlieferung 1 Kor 11,23-25 von Anfang an Bestandteil dieser Passionserzählung war, läßt sich damit nicht wirklich sichern. Weitere vorevangeliare Sammlungen von Jesusworten und Jesuserzählungen sind möglich; man hat u.a. an eine Gleichnissammlung, an eine Sammlung von Streitgesprächen um Mk 2,15-28* herum, aber auch an eine oder zwei Sammlungen von Wundererzählungen und an eine eigenständige vorlukanische Passionsqualle gedacht. Mit der relativen Ausnahme der Logienquelle (s.u.) ist die Existenz dieser Sammlungen freilich nicht wirklich zu sichern.
Erkennbar ist uns erst eine gewisse Zäsur im Prozeß der Sammlung der Jesusüberlieferung, die vier Evangelien. Freie Zitationen von Herrenworten in altkirchlicher Literatur zeigen freilich, daß der Prozeß noch nicht wirklich zum Abschluß gekommen war. Aus den vier Evangelien sticht das Johannesüberlieferung durch ein anderes Bild einiger Eckdaten des Lebens Jesu (Zahl der Jerusalem-Reisen und damit verbunden die Dauer der öffentlichen Wirksamkeit Jesu; Datierung seines Todes) ebenso wie durch den größtenteils verwendeten andersartigen Stoff heraus, der zumeist in langen, auf die Person Jesu selbst konzentrierten Reden geboten wird; allerdings ist es nicht ohne Kenntnis synoptischer Traditionen (vielleicht auch eines oder mehrerer der synoptischen Evangelien) geschrieben, die es in eigenständiger Weise weiterdenkt. Von Bedeutung ist es weniger für die Rückfrage nach dem irdischen Jesus als vielmehr für die Frage nach der Entwicklung urchristlicher Theologiegeschichte.
Die drei ersten Evangelien zeigen einerseits Übereinstimmungen im groben Aufbau sowie oft auch im Wortlaut vor allem der Überlieferung der Worte Jesu, andererseits Differenzen in der Stoffmenge und in der Stoffanordnung im einzelnen. Zur Klärung dieses komplexen Befundes hat man traditionsgeschichtliche und literarkritische Hypothesen erarbeitet; durchgesetzt hat sich heute vor allem im deutschen Sprachraum die sog. Zweiquellentheorie: Matthäus und Lukas haben neben jeweiligem Sondergut als schriftliche Vorlagen das Markusevangelium sowie die sog. Logienquelle benutzt, die im wesentlichen Worte Jesu bot, beide dieser Vorlagen u.U. in je verschieden überarbeitetem Zustand.
Aber auch die synoptischen Evangelien sind nicht primär daran interessiert, uns eine möglichst genaue Vorstellung vom Ablauf des Lebens Jesu zu vermitteln. Redaktionskritische wie erzählanalytische Evangelienforschung lassen, bei unterschiedlichem methodischen Ausgangspunkt im einzelnen, je auf ihre Weise die Evangelien als literarische Werke mit ihren spezifischen aktuell motivierten Intentionen erkennen. Sie haben wir zunächst zu eruieren, bevor wir die Evangelien auf die geschichtliche Wirklichkeit Jesu hin befragen.