Lektion 9: Die Deuteropaulinen

Nicht von Paulus und doch von Paulus?
Der zweite Thessalonicherbrief
Der Kolosserbrief
Der Epheserbrief
Die Pastoralbriefe
Exkurs: Gnosis

Der Epheserbrief

Verfasserfrage, Zeit und Ort:

Der Epheserbrief gibt sich als ein Schreiben des Apostels Paulus aus, stammt aber wahrscheinlich nicht von ihm. Schon der spätneutestamentliche Wortschatz und die außergewöhnlich langen Satzgebilde mit Häufung substantivischer Kettenbildungen sprechen gegen Paulus als Verfasser, vor allem aber theologische Abweichungen: Es finden sich nur mehr schwache Anklänge an die Rechtfertigungslehre von Röm 3, vor allem aber an die Gesetzesthematik, die Kreuzestheologie tritt zurück zugunsten einer Theologie, die um Auferweckung, Erhöhung und himmlische Inthronisation Christi kreist; in der Eschatologie treten zeitliche zugunsten räumlicher Kategorien zurück, die „Kirche“ wird nur mehr als Gesamtkirche thematisiert, nicht mehr als Einzelgemeinde; das Bild des „Leibes Christi“ verliert seine paulinische paränetische Funktion. Vor allem wird nunmehr das Apostolat des Paulus selbst als Fundament verstanden (Eph 2,20; anders 1 Kor 3,11); vergessen ist die Auseinandersetzung des Paulus um seine Anerkennung als Apostel in Gal 2,1-10; seine Position ist bereits ein kirchengeschichtliches, theologisch bedeutsames Faktum.
Datiert wird der Brief zumeist auf die Jahre um 80-90 n. Chr. Der Ort der Entstehung ist unbekannt.

Literarkritische Fragen:

Der Brief wird literarkritisch (mit Ausnahme von möglichen Glossen in Eph 2,5.8.9) als Einheit beurteilt. Er ist vermutlich in partieller Abhängigkeit vom Kolosserbrief entstanden. Vgl. Eph 1,7 mit Kol 1,14; Eph 1,13 mit Kol 1,5; Eph 1,15 mit Kol 1,4; Eph 1,19f. mit Kol 2,12, Eph 3,1-13 mit Kol. 1,23-28, Eph 4,16 mit Kol 2,19, Eph 6,21f. mit Kol 4,7. Auch die „Haustafel“ Eph 5,22-6,9 setzt Kol 3,18-4,1 voraus. Doch gibt es auch wichtige Elemente des Kolosserbriefes, die der Epheserbrief nicht enthält, u.a. das Motiv aus Kol 1,24, daß die Leiden des Apostels ergänzen, was an den Leiden Christi noch fehlt, sodann die Auseinandersetzung um die sog. kolossische Philosophie (Einzelne Elemente in Eph 1,19f.; 2,1 zeigen jedoch, daß der Verfasser des Epheserbriefes auch dieses Stück des Kolosserbriefes kannte) sowie die an Gal 3,28 erinnernde Liste Kol 3,11. Ferner tritt gegenüber dem Kolosserbrief die Missionsterminologie zurück; Mission und Kirche treten auseinander.
Literatur zur Weiterarbeit: F. Hahn, Das Verständnis der Mission im Neuen Testament, WMANT 13, Neukirchen 1963, 2. Aufl. 1965.
Wahrscheinlich waren dem Verfasser des Epheserbriefes auch einige echte Paulusbriefe bekannt (1 Kor, möglicherweise auch 2 Kor und Röm). Über andere hinter einzelnen Textstücken (z.B. hinter Eph 1,3-14; 1,20-23; 2,14-16) vermutete Vorlagen hat sich kein Konsens gebildet.

Religionsgeschichtliche Fragen:

Vor allem Christologie und Ekklesiologie und ihre Begrifflichkeit wurden nicht selten auf gnostischem Hintergrund gedeutet. Begriffe wie pleroma (Eph 3,19; 4,13; in Eph 1,23 für die Kirche gebraucht) u.a. laden dazu ein, ebenso die Vorstellung des Leibes Christi als himmlischer Bau oder die präsentische Eschatologie (Eph 1,20-23; 2,6.8; 5,14). Zu beachten sind aber ebenso Parallelen aus dem hellenistischen Judentum (zu den kosmologischen Aussagen vgl. die bei U. Schnelle, Einleitung, 359 genannten Parallelen aus Philo) und aus Qumran (vgl. hier vor allem zu Eph 2,19-22), wie die Aufnahme einzelner Motive aus den Paulusbriefen sowie aus dem Kolosserbrief.

Grobgliederung

1,1f. Präskript
1,3-14 Eulogie
1,15-23 Danksagung
2,1-3,21 Die Heilswirklichkeit
4,1-6,20 Die in der Heilswirklichkeit gründende Ermahnung
6,21-24 Mitteilungen und Schlußgrüße

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Feingliederung

1,1f. Präskript
Textkritisch umstritten ist, ob das Präskript die Angabe „in Ephesus“ enthalten hat. Die Angabe fehlt in wichtigen alten Zeugen; Marcion bzw. seine Überlieferung kennt den Brief als Brief an die Laodicener (vgl. Kol 4,16 - diese Stelle hat später tatsächlich zu einem vom Epheserbrief unterschiedenen Laodicenerbrief geführt). Vielleicht war der Brief tatsächlich ein Schreiben an mehrere Gemeinden, die sich in paulinischer Tradition stehend wußten, aber nicht an eine Einzelgemeinde. Von daher wäre auch erklärbar, daß ein unmittelbarer Situationsbezug (abgesehen von 2,11-22) kaum sichtbar wird.
Das Präskript ist kurz gehalten, intoniert aber schon Wesentliches: Paulus ist Apostel nach dem Willen Gottes; seiner Verkündigung des Heilsmysteriums (vgl. Eph 3,1-13) kommt von daher Autorität zu; die Adressaten werden als „Heilige“ angesprochen (vgl. 1 Kor 1,2; Eph 2,21), was einen Gott wohlgefälligen Lebenswandel nach sich ziehen soll (Eph 5,3). Als Absender fungiert Paulus allein (wie später in den Pastoralbriefen), nicht mehr wie in Kol 1,1 zusätzlich Timotheus.

1,3-14 Eulogie
Die Eulogie, traditionell Lobpreis Gottes für eigenes Erleben, benennt zentrale theologische Motive des Briefes: Erwählung schon vor Anbeginn der Welt zur Heiligkeit (1,4; vgl. Eph 2,21; 5,3), Vorherbestimmung zur Sohnschaft um Christi willen, Vergebung unserer Sünden (1,7, vgl. Eph 2,1-7), Erkenntnis seines Mysteriums (1,9, vgl. Eph 3,1-7) und seiner Macht der Selbstdurchsetzung (1,10, vgl. Eph 1,20-22), gottgewollte Zweckbestimmung der Gemeinde, ihn zu verherrlichen (1,11f.; vgl. für die Engel in Qumran 4Q400-403). Schließlich wird den Angeredeten gesagt, daß in ihrer Hinwendung zum Christentum Gottes erlösende Heilsmacht auch an ihnen wirksam geworden ist (1,13f.).

1,15-23 Danksagung und Fürbitte
Die Danksagung und Fürbitte, traditionell der Versuch, die Empfänger durch Lob und Bitte für das Anliegen des Briefschreibers empfänglich zu machen, gibt der Hoffnung Ausdruck, daß auch die Angeredeten ihr Sein als Christen unter den in der vorangegangenen Eulogie explizierten Kategorien begreifen, daß es ihnen von Gott gegeben werde, zu erkennen, was die Hoffnung ist, die aus dem Ruf Gottes entspringt, was der Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes unter den Heiligen ist, woran sie jetzt schon partizipieren (vgl. Eph 2,4-7), nämlich der ungehinderte Zugang zum Vater (Eph 2,18) und die Erbschaft im Reich Christi und Gottes (Eph 5,5), und was die Kraft Gottes an ihnen und gegenüber den Mächten der Welt ist, nämlich die Macht zur Durchsetzung seines Willens, sich seine Gemeinde zu schaffen und Christus über die Weltmächte zu erhöhen (Eph 1,22, vgl. schon Eph 1,10). Er ist das Haupt der Kirche, sie ist sein Leib.
Das Weltbild des Epheserbriefes kennt nicht die übliche Dreiergliederung Himmel - Erde - Unterwelt, sondern eine Gliederung Oberer Himmel als Raum Gottes - unterer Luftraum als Raum der widergöttlichen Mächte - Erde als Ort des von diesen Mächten angegriffenen Menschen (- Unterwelt?). Die Ansiedlung der widergöttlichen Mächte in den unteren Luftraum soll wohl ihre Gefährlichkeit für den Menschen demonstrieren, während von dem Hades als dem Ort der gespenster- und schattenhaften Seelen keine wirkliche Gefahr für den Menschen auf der Erde ausgeht.

2,1-10 Der Heilsstand der Epheser ist durch Gottes Gnade gegründet
Der Heilsstand der Epheser wird zunächst hinsichtlich der Bedeutsamkeit der Lebenswende für den einzelnen beschrieben. Die Gegenüberstellung von einst und jetzt erinnert die Leser an ihre Taufe (Erwachsenentaufe!). Das bisherige Sein der Angeredeten im Heidentum wird als Sein unter der Herrschaft der widergöttlichen Mächte des unteren Luftraumes vorgestellt (2,2), die in der Herrschaft der Begierden über den Menschen konkret erfahrbar wird (daß der Mensch sich von den Begierden beherrschen läßt, war allerdings auch nach griechisch-philosophischer Anschauung verpönt).
Der eschatologische Vorbehalt von Röm 6,8 scheint in Eph 2,5f. reduziert. V. 6 sagt bereits für die Gegenwart die Auferweckung mit Christus zu (vgl. Kol 3,1). Die Deutung von Eph 2,7 ist umstritten.
Die Heilsverwirklichung an uns zielt auf unseren Wandel in guten Werken (2,10, vgl. dann 4,1; 5,2.15, als Abgrenzung von den heidnischen Werken Eph 4,17), die Gott zuvor bereitet, d.h. zu deren Verwirklichung er uns mit dem Heiligen Geist ausgerüstet hat.

2,11-22 Die neue Gemeinschaft
Die Vergangenheit der Adressaten kommt hinsichtlich des Abstandes der Heiden zu der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel in den Blick. Dieser positive Verweis auf Gottes Geschichte mit Israel kann sich dem Anliegen verdanken, jeglicher Form der Überheblichkeit der Heidenchristen gegenüber den Judenchristen den Boden zu entziehen.
Gottes Heilstat in Christi Kreuzestod beseitigt den genannten Abstand; Ergebnis ist die eine Kirche aus Juden- und Heidenchristen. Die Deutung der niedergerissenen Scheidewand ist strittig: Diskutiert werden u.a. die Schranke zwischen Himmel und Erde (Lindemann für die s.E. hinter Eph 2,14-16 stehende Vorlage, unter Verweis auf gnostische Parallelen), aber auch die Thora als Schranke zwischen Juden und Heiden (so die meisten).
Der unterschiedslos gleiche Zugang zum Vater (V. 18) wird in V. 19 in einem auch für Heiden eingängigen Bild beschrieben: Fremde und Beisassen hatten nicht das volle Bürgerrecht in dem jeweiligen Gemeinwesen. Die Apostel und die (wohl christlichen, nicht alttestamentlichen) Propheten sind Fundament (Eph 2,20); ihre Verkündigung wird zur Norm auch für spätere Generationen, auch für die eigene Zeit, auch für die Verkündigung des Verfassers des Epheserbriefes. Das Bild des Ecksteins, des wichtigsten Steines im Fundament, stammt wohl aus Jes 28,16.
Parallelen zu der Vorstellung, die Gemeinde sei der eschatologische Tempel, finden sich vornehmlich in Qumran: 1QH 8,4-10 (dort auch die Bilder vom Eckstein und von den Fundamenten); 1QS 9,5bf.. Die Bilder vom Bauen und Wachsen durchdringen sich gegenseitig auch in 1 Kor 3,9-15.16f.; 1 Pt 2,1-10.

3,1-13 Das Mysterium
Der Text nimmt paulinische Selbstaussagen teilweise variierend auf (zum Motiv der Offenbarung vgl. Gal 1,15; zum Motiv des Dienstes des Paulus an den Heiden vgl. Gal 1,16; Röm 15,16; zum Motiv des Geringsten unter den Heiligen vgl. 1 Kor 15,9) und begreift das Wirken des Apostels als Teil göttlichen Handelns, durch das Revelationsschema (vgl. Kol 1,26-28; Röm 16,25f.; vgl. daneben 1 Kor 2,6-10, 2 Tim 1,9f.; Tit 1,2f.; 1 Pt 1,20) in Worte gefaßt: Vor Grundlegung der Welt hat Gott beschlossen, ab einem bestimmten Zeitpunkt in Christus Jesus durch die Verkündigung des Evangeliums auch die Heiden in das Heil einzubeziehen; dieses Geheimnis, früheren Generationen verborgen, wird nunmehr offenbart und auch den Adressaten der jeweiligen Schrift kundgemacht. Vom Geheimnis (vgl. Dan 2,19.44; äthHen 13,8; 4 Esr 14,3.5) sprach auch Paulus: Das Geheimnis ist in Röm 11 die endliche Errettung Israels, in Eph 2 der Einbezug der Heidenchristen. Warum der Verfasser des Epheserbriefes nicht auf Jes 42,6; 49,6 o,ä. rekurriert (vgl. Lk 2,32 u.ö.), mag man fragen.
Durch die Kirche erfahren auch die widergöttlichen Mächte und Gewalten von der Weisheit Gottes; sie verlieren ihre Herrschaft über die Heiden, die zu Christus finden.

3,14-23 Fürbittgebet des Verfassers
Zur Metapher vom Inneren Menschen vgl. Röm 7,22. Das Bild der Einwohnung Christi in den Herzen der Menschen bezeichnet das völlige Bestimmtsein ihres Handelns durch die Heilswirklichkeit.
Die Wendung „Breite und Länge und Höhe und Tiefe“ (V. 18) greift eine wohl kosmologische Formel aus, die sich auf die Ausdehnung des Weltalls bezieht und u.a. in Zaubertexten begegnet; sie soll hier die Erkenntnis der in Christus geschenkten Heilswirklichkeit bezeichnen.
Die Gewißheit der Gebetserhörung (V. 20) leitet die Doxologie am Ende des Gebetes ein (V. 21). Die Doppelung „in der Kirche und in Christus Jesus“ hat schon den alten Abschreibern Kopfzerbrechen bereitet. Vielleicht liegt lediglich eine Häufung liturgischer Formeln vor.

4,1-6,20 Die in der Heilswirklichkeit gründende Ermahnung

4 ,1-6 Die geforderte Einheit der Gemeinde
Zum Thema „Wandel, welcher der Berufung würdig ist“, vgl. schon 1 Thess 2,12; zum Stichwort „Berufung“ vgl. Eph 1,18 sowie ausführlich Eph 2,1-22. So sind die Aussagen von Eph 4,1-6,20 in den Aussagen über das Heilshandeln Gottes (und in den Gebeten) verankert. Allein die durch gemeinschaftsförderndes Verhalten wie Demut, Geduld, Liebe etc. zu wahrende Einheit der Gemeinde entspricht ihrer vorgegebenen Einheit des Geistes, der Einheit Gottes, des Glaubens, der Taufe. Die Forderung der Demut ist uns als christliche Tugend selbstverständlich; in der Pagangräzität konnte man diese vornehmlich an Sklaven gerichtete Forderung (Euripides, Andr 164f.; Aristoteles, Pol 1295b) als Zumutung empfinden.

4,7-16 Die Funktion der Ämter in der Kirche, bezogen auf das Globalziel kirchlichen Lebens
Ps 68,29 paßt dem Verfasser des Epheserbriefes als Schriftzitat, weil es die Erhöhung Christi (vgl. Eph 1,20) und die Mitteilung der Gaben (Eph 4,11) in sich bereits verbunden hat. Eph 4,10 wird in der neueren Forschung nicht mehr auf das Motiv der Höllenfahrt Christi gedeutet (zu dem Motiv vgl. 1 Pt 3,18f.), sondern meint die Erniedrigung Christi während seines Erdenweges. Nach diesem Exkurs konkretisiert der Verfasser die in Eph 4,7 angesprochene Mitteilung der Gaben. Im Vergleich zu Paulus ist eine Konzentration auf die wortbezogenen Ämter sichtbar, vielleicht im Hinblick auf die in Eph 4,14 angesprochene Problematik zu begründen. Diese Ämter sind von Christus der Kirche gegeben, und ihnen eignet insofern göttliche Dignität, sie haben aber ihr Daseinsrecht nur im Bezug auf den Dienst an den Heiligen: damit sie „zugerüstet würden zum Werk des Dienstes, zur Erbauung des Leibes Christi“. Ein funktionales Amtsverständnis ist auch für Eph 4,7-12 prägend.
Als Gesamtziel der Kirche gilt in Eph 4,13-16 das Wachsen hin auf Christus. Der bilderreiche Abschnitt wird in V. 13f. konkret: Die Problematik geistlicher Unreife, d.h. mangelnder Urteilsfähigkeit ist angedeutet, ebenso die Gefahr einer Verwirrung durch falsche Lehren; konkrete antihäretische Polemik fehlt allerdings, anders als in Kol 2,8-23. Das Wachstum jedes einzelnen ist wohl als Fortschreiten in der die Fragen praktischer Lebensführung einschließenden (!; vgl. Eph 4,17-6,17) Erkenntnis zu denken.

4,17-24 Der alte und der neue Mensch
In Eph 4,17-19 wird der geforderte christliche generell vom heidnischen Lebenswandel abgegrenzt (vgl. 1 Thess 4,1-8): Vergeblichkeit des Sinnes, Verfinsterung der Gedanken, Unkenntnis Gottes, Ausschweifung und Unreinheit sind dessen Hauptkennzeichen. Daß der Mensch auch durch heidnische Philosophen in ähnlicher Weise vor einer verkehrten Lebenshaltung gewarnt wird, bleibt außer Betracht. Insofern ist der Stil dieser Verse für uns heute nicht nachzuahmen.
Eph 4,20-24 zeigt die gewichtige ethische Komponente in der „Belehrung über Christus“, sei es in der (organisatorisch für uns nicht näher faßbaren) Unterweisung der Taufbewerber, sei es in der Annahme der Missionspredigt. Die Forderung den alten Menschen aus- und den neuen anzuziehen, ist von Kol 3,9f. übernommen. Jesus ist weniger als Vorbild, wohl aber als begründende Norm angesehen. Die Einweisung in die christliche, dem Heidentum entgegengesetzte Lebensführung wird nicht als allgemeine, sondern als christlich begründete Ethik begriffen. Die Ebenbildlichkeit des Menschen fungiert nicht als Voraussetzung des Menschseins schlechthin, sondern als dessen nur im Bereich der Kirche Christi zu erfüllende Zielvorgabe.

4,25-5,20 einzelne Mahnungen
Die Anordnung ist im Groben gesehen gegenüber Kol 3,5-15 umgestellt: Standen dort die negativen Beispiele voran, so hier die Mahnungen zum rechten Verhalten gegeneinander (Eph 4,25-32).
Die Schriftzitate in Eph 4,25.26 sind gegenüber Kol 3,8f. neu. In Eph 4,32 gilt Gottes Heilstat in Christus als Vorbild (vgl. schon Kol 3,13b), ähnlich im folgenden Text Eph 5,1f. Zu Eph 5,5 vgl. 1 Kor 6,9-11. Die Gleichsetzung Heidentum = Torheit (Eph 5,15; vgl. Eph 4,17-19) galt schon im frühen Judentum (EpArist 139-142) und bei Paulus (1 Thess 4,3f.; Röm 1,18-32). Daß die Christen, einer geistigen Elite vergleichbar, als Weise wandeln, ist hier noch Forderung an die Christen (Eph 5,15), noch nicht Selbstaussage gegenüber den Heiden (Diogn 6,1).

5,21-6,9 die sog. Haustafel

5,21-33 Mahnung an die Frauen und die Männer

5,21-24 Die Unterordnung der Frau
Eph 5,23f. sind Zusatz gegenüber Kol 3,18 und vergleichen unter modifizierendem Rückgriff auf 1 Kor 11,3 die Unterordnung der Frau unter den Mann mit der Unterordnung der Kirche unter Christus.

5,25-33 Die liebende Selbsthingabe des Mannes
Begnügt sich Kol 3,19 mit der Forderung der agape des Mannes gegenüber seiner Frau, so veranlaßt dieses Stichwort den Verfasser des Epheserbriefes zu einer weit ausgreifenden Begründung dieser Forderung in dem Vorbild der Selbstaufopferung Christi. V. 26f. gibt die Zweckbestimmung seines Handelns an: die Heiligung der Gemeinde, wodurch sie allererst liebenswert wird, wie eine strahlend reine und schöne Braut. Die geforderte Liebe des Mannes ist somit die ganz auf das Heil und das Wohl der Frau bedachte Hingabe. In V. 28a ist der Schluß Sinnbild für das Höchstmaß der vom Mann geforderten Liebe. 28b ist, wie aus 29b hervorgeht, nicht nur reine Nützlichkeitserwägung. In V. 29 ist der Begriff „Fleisch“ schon im Hinblick auf das Genesis-Zitat gewählt und steht hier für „sich selbst“. V. 30: Christliche Eheleute sind auch als Eheleute in den Heilsbereich einbezogen. Das Bestimmtsein durch die Heilstat Christi ergibt Konsequenzen bis in die Eheführung hinein. Gen 2,24 ist auf das Verhältnis Christus – Kirche anwendbar, weil die Ehe das Verhältnis Christus - Kirche abbildlich darstellt, das als Urbild und Vorbild einer vollkommenen Ehe begriffen wird.

6,1f. Mahnung an die Kinder
Die Mahnung wird (neu gegenüber Kol 3,20) mit dem einschlägigen Gebot aus dem Dekalog begründet.

6,4 Mahnung an die Väter
Die Mahnung ist nicht nur im Christentum verbreitet, vgl. Plutarch, de liberis educandis 12.

6,5-8 Mahnung an die Sklaven
Neu gegenüber Kol 3,1 ist der unmittelbare Vergleich: der Sklave soll dem seinem irdischen Herrn wie Christus gehorchen.

6,9 Mahnung an die Herren
Die Mahnung wird zweifach begründet: 1. Der eigentliche Herr über die Sklaven, aber auch über die irdischen Herren ist Gott im Himmel; 2. (im jetzigen Kontext neu gegenüber Kol 4,1, von Kol 3,25 übernommen) vor ihm gibt es kein Ansehen der Person.

6,10-17 Warnung davor, die Gefahr der Versuchung zu unterschätzen
Die Wahl der militärischen Metaphorik sowie die Mythifizierung der Gegner in Eph 6,12 (vgl. schon Eph 2,2) soll die Gefährlichkeit des Kampfes für den Christen dartun.

6,18-20 Mahnung zum Gebet und zur Fürbitte für „Paulus“

6,21f. Die Sendung des Tychikus

6,23f. Schlußgruß

Theologische Grundgedanken des Epheserbriefes:

Der Epheserbrief will den Adressaten die Großartigkeit und existenzbestimmende Bedeutsamkeit ihres Heilsstandes vor Augen führen und sie zu einem ihrer Berufung entsprechenden Verhalten ermahnen (Eph 1,18f.; 3,17-19). Die theologischen Grundgedanken des Epheserbriefes sollen angesichts der Bedeutung des Themas „Kirche“ in dem Dreischritt Soteriologie – Eschatologie – Ethik zusammengefasst werden.

Soteriologie

Heil heißt, zum Gott der Christen zu finden. Was dem einzelnen Heidenchristen als individuelle Lebenswende vor Augen steht, deutet ihm der Epheserbrief als Einbezogensein in einen Plan Gottes, der eben diese Einbeziehung schon von Anbeginn der Welt an vorsah, der aber früheren Generationen unbekannt blieb und erst jetzt durch die Apostel und christlichen Propheten verkündigt wurde (Eph 3,1-6). Gnade ist es, daß dem Menschen eine Abkehr von der heidnischen Unreinheit überhaupt möglich ist.

Ekklesiologie

Unter Voraussetzung der Adresse „in Ephesus“ hatte schon Hieronymus (PL 26, 470 C – 472 A) auf die machtvolle Allgegenwart heidnischer Religiosität in der Metropole der Provinz Asia als Hintergrund für den Epheserbrief verwiesen. Die Aussagen des Epheserbriefes, die Kirche betreffend, wirken dann noch überschwänglicher, wenn man sich vor Augen hält, daß sich die Christen nicht in prächtigen Kirchenbauten, sondern nur in dem kleinen bis mittelgroßen triclinium eines antiken Hauses versammeln konnten <Abbildung eines entsprechenden tricliniums von Ephesus>.
Während Paulus den Begriff ekklesia sowohl auf die eine „Kirche Gottes“ (Gal 1,13; 1 Kor 15,9) als auch auf die einzelnen „Kirchen“ in Galatien (Gal 1,2), in der Provinz Asia (1Kor 16,19) und in Makedonien (2 Kor 8,1) anwandte, bezeichnet der Begriff im Epheserbrief nie eine einzelne Gemeinde, sondern stets die weltweite Kirche (Eph 1,22; 3,10.21; 5,23-33). Sie ist der Leib Christi (Eph 1,23; 4,12.15f.; 5,30), Christus ist ihr Haupt. (Eph 1,22; 4,15; 5,22); beide gehören unzertrennlich zusammen. Kirche ist der den Machtbereich der widergöttlichen Mächte schon jetzt einschränkende Wirkungsraum Gottes und seines Heiles inmitten dieser Welt.
An Ämtern benennt Eph 4,11 Evangelisten, Hirten, Lehrer als Größen der Gegenwart. Die Apostel sind zusammen mit den Propheten als Größen der Vergangenheit (Eph 4,11) Traditionsnorm (Eph 2,20; Paulus selbst hatte Christus als Fundament bezeichnet 1 Kor 3,11).

Die christliche Ethik

Das Leben des Christen soll der Heilstat Gottes an ihm entsprechen, nämlich der Berufung in die Gemeinde der „Heiligen“ (Eph 4,1 in Verbindung mit Eph 1,4.11.18); so sind die Aussagen von Eph 4,1-6,20 in den Aussagen über das Heilshandeln Gottes verankert. Aber auch im einzelnen wird die ethische Mahnung im Heilshandeln Gottes und Christi (5,2) oder in der in ihm gesetzten Norm (4,20f.) oder in seinem Vorbild (4,32; 5,1; 5,25-33!) begründet und in den Horizont des göttlichen Gerichtes gestellt (5,6f.; 6,8f.) und somit als spezifisch christliche Ethik begriffen. Das undifferenzierte Bild des Heidentums u.a. als unvernünftige Selbstauslieferung an die Begierden gerade im sexuellen Bereich (Eph 2,1-3; 4,17-19; vgl. schon bei Paulus 1 Thess 4,3-5; Röm 1,18-32, aber auch, ohne Bezug auf heidnisches Sexualverhalten Phil 4,8) ist typisch für die sog. postbaptismale Paränese, für die Mahnung, die an die in der Taufe erfolgte entscheidende Lebenswende erinnern und die Christen auf ihr neues Leben ansprechen soll, führt aber zugleich frühjüdische Abgrenzungsstrategien weiter.