Lektion 9: Die Deuteropaulinen

Nicht von Paulus und doch von Paulus?
Der zweite Thessalonicherbrief
Der Kolosserbrief
Der Epheserbrief
Die Pastoralbriefe
Exkurs: Gnosis

Der Kolosserbrief

Kolossä, eine einstmals große und reiche Stadt 170 km Luftlinie östlich von Ephesus, wurde 61/62 n. Chr. durch ein Erdbeben schwer zerstört; ob sich danach noch einmal eine christliche Gemeinde gebildet hat, ist ungewiß, in späteren christlichen Schriften wird Kolossä nicht mehr erwähnt.
Die christliche Gemeinde, bestehend aus Heidenchristen (Kol 1,21.27; 2,13; 3,5.7) ist durch Epaphras gegründet (Kol 1,7; 4,11f.), nicht durch den Verfasser von Kol, der die Gemeinde nicht kennt (Kol 2,1). Er liegt an einem ungenannten Ort gefangen (Kol 1,24; 4,3.18), hat aber wohl durch Epaphras Nachrichten erhalten (Kol 1,8). Epaphras hat sich auch um die Gemeinden in Hierapolis und Laodizea verdient gemacht (Kol 4,13).

Verfasser, Ort und Zeit

Differenzen zu Paulus im Stil, aber auch in der Entfaltung zentraler Themen lassen eher auf einen nachpaulinischen Autor schließen: Christologie ist als kosmische Christologie angelegt (mit entsprechenden Folgen für die Ekklesiologie), die Eschatologie reduziert den eschatologischen Vorbehalt von Röm 6,4, der Glaubensbegriff meint hier schon die Orientierung an der Tradition.
Ort und Zeit der Abfassung sind unbekannt. Die relative Frühdatierung innerhalb der Deuteropaulinen wird zumeist mit der größeren Nähe zu Paulus begründet.

Grobgliederung

1,1-2 Präskript
1,3-11 Proömium
1,12-2,23 Vergewisserung der Gemeinde gegen die Irrlehrer
3,1-4,6 Paränese
4,7-18 Grüße und Gnadenwunsch

to the top

Feingliederung

1,1-2 Präskript
vgl. 2 Kor 1,1f.

1,3-11 Proömium
Das Proömium, gestaltet als Danksagung, ist in mehrfacher Weise auf die Situation der Kolosser hin formuliert: die Wendung „Gnade Gottes in der Wahrheit“ legitimiert die Verkündigung des Verfassers angesichts der in 2,6-23 angesprochenen Lehre, angesichts deren auch das Wachsen in der Erkenntnis Christi von Bedeutung ist (vgl. zu diesem Motiv von V. 10b.11 auch Kol 2,2).
Zur Trias Glaube, Liebe, Hoffnung in Kol 1,4f. vgl. 1 Th 1,3; 1 Kor 13,13.

1,12-20 Christus der Erste in Schöpfung und Erlösung
Der sog. Christushymnus Kol 1,15-20 ist Ausgangspunkt und theologische Basis der Auseinandersetzung mit den Irrlehrern. Zum Motiv der Ebenbildlichkeit Christi vgl. 2 Kor 4,4 sowie Kol 3,10; zum Motiv der Schöpfungsmittlerschaft Christi Kol 1,16 vgl. Joh 1,3; Hebr 1,2; Apk 3,14 sowie als biblische Grundlage Prov 8,22f. Kol 1,16 hat in der Situation der Kolosser unmittelbare Bedeutung. Zu Kol 1,18 vgl. Kol 1,5.12, zu Kol 1,19 vgl. Kol 2,9.
Der Name „Hymnus“ ist formgeschichtlich insofern unpassend, als der Aufbau eines pagan-antiken Hymnus (Anrede der Gottheit mit ihren Namen / mit Gottesprädikationen - Erwähnung ihrer Wohltaten - Bitte an die Gottheit) in Kol 1,15-20 nicht wiederkehrt, wird aber aus Gründen der Wissenschaftstradition beibehalten. Vergleichbare Texte: Phil 2,6-11; Joh 1,1-18; 1 Tim 3,16. Literarkritisch hat man Zusätze des Verfassers des Kolosserbriefes vor allem in V. 18.20 vermutet.

1,21-23 Christi Versöhnungstat kommt auch den Kolossern zugute
Die Qualifizierung der Vergangenheit der Adressaten unter dem Begriff der „bösen Werke“ ist kein Urteil über ihre einzelnen Handlungen, sondern ist Bestandteil einer typischen Abgrenzungsstrategie, die (vgl. V. 23) angesichts der Verunsicherung der Adressaten über die Gültigkeit ihrer Heilshoffnung neu von Bedeutung ist.

1,24-2,5 Des Apostels Dienst für die Kolosser
Der Abschnitt ist von der Topik des Freundschaftsbriefes geprägt, vgl. den Verweis auf den Einsatz des Absenders für die Adressaten (1,24f.29; 2,1) und die Intention dieses Einsatzes (2,2) sowie die Gegenüberstellung von leiblicher Ab- und geistiger Anwesenheit (2,5). Der auf den ersten Blick blasphemisch wirkende Vers Kol 1,24 thematisiert nicht eine soteriologische Insuffizienz der Christusleiden, sondern den Verkündigungsauftrag des Apostels, dessen Existenz als die eines Leidenden von dem Inhalt seiner Verkündigung geprägt ist (vgl. 2 Kor 4).
Kol 1,26-28 enthält wie Eph 3,4-7.8-12; Röm 16,25f. (vgl. daneben 1 Kor 2,6-10, 2 Tim 1,9f.; Tit 1,2f.; 1 Pt 1,20) das sog. Revelationsschema. Konstante Elemente sind:
- der Begriff »Geheimnis«,
- die Gegenüberstellung früherer, seit Ewigkeit her währender Verborgenheit und jetziger Offenbarung,
- der Inhalt der Offenbarung: der durch Christus ermöglichte Einbezug der Heiden in das Heil Gottes,
- die Bindung der Offenbarung des Geheimnisses an die apostolische Verkündigung.
Kol 2b.3 weist wiederum auf die nachfolgende Auseinandersetzung mit den Irrlehrern voraus.

2,6-23 Warnung vor Irrlehrern
zur Beschreibung der Irrlehrer s.o. Gegen die Irrlehre geht der Verfasser mit christologischen Argumenten vor: In Christus wohnt die Fülle der Gottheit leibhaftig (2,9) und er ist das Haupt jeglicher übermenschlichen Herrschaften, denen nach Meinung der Irrlehrer ebenfalls Verehrung gelten sollte (2,10). Was die (möglicherweise von den Gegnern geforderte) leibliche Beschneidung bringen könnte, ist durch die „nicht von Händen gemachte ... Beschneidung in Christus“ (Kol 2,11) gegeben (zum Motiv der spiritualisierten Beschneidung vgl. Ez 44,7.9; Jub 1,23; OdSal 11,1-3; EvThom 53; Röm 2,29), durch die Taufe: Sie ist verstanden als Mitbegrabenwerden und Mitauferwecktwerden mit Christus (2,12), dieses wird konkret in der Ablegung der Sünde (Kol 2,13; bildlich spricht der Verfasser schon zuvor von der Ablegung des fleischlichen Leibes, Kol 2,11) und ist begründet in der Versöhnungstat Christi am Kreuz (Kol 2,14), durch die gleichzeitig die Mächte ihrer Macht entkleidet und öffentlich zur Schau gestellt werden als Mächte, die über die in Christus Begrabenen keine Macht mehr haben.

3,1-4,6 Paränese

3,1-4 Grundlegung
Kol 3,1 weist auf Kol 2,12 zurück. Gegenüber Röm 6,3f. ist die Gegenwart des Auferstehungslebens betont. Dies ist gegenüber seiner Bestreitung durch die Irrlehre sachgemäß und dank der ethischen Fortsetzung gerechtfertigt. Kol 3,4 bezeugt überdies auch für den Verfasser des Kolosserbriefes die Vorstellung, daß erst mit der Wiederkunft Christi auch das Auferstehungsleben der Gläubigen uneingeschränkt sichtbar sein wird.

3,5-11 Warnung vor Lastern
Die genannte Warnung greift Motive aus der soteriologischen Grundlegung auf (Abtöten der Glieder 3,5 weist auf die Taufterminologie 2,12 zurück; zur Erinnerung an das heidnische Vorleben 3,7 vgl. 1,21; 2,13, zum Motiv der Ebenbildlichkeit 3,10 vgl. 1,15). Wie in frühjüdischen Lasterkatalogen stehen auch in dem Lasterkatalog 3,5 die sexuellen Sünden voran. Kol 3,11 bezieht sich auf die Relativierung der menschlichen Vorbedingtheiten angesichts des neuen Seins gemäß der Ebenbildlichkeit Christi (dazu vgl. Gen 1,26f. und Röm 8,29). Die Skythen galten in der Antike als die Wildesten der Barbaren. Der Hinweis auf Mann und Frau (vgl. Gal 3,28) ist vielleicht mit Rücksicht auf Kol 3,18 nicht aufgenommen.

3,12-17 Mahnung zum Leben gemäß der Erwählung durch Gott
Die in V. 12 geforderten Tugenden waren in der heidnischen Umwelt teilweise als Ausdruck falscher Unterwürfigkeit eher verpönt. 3,13b verweist auf das verpflichtende Urbild und Vorbild des Herrn. Die Überordnung der Liebe in Kol 3,14 entspricht 1 Kor 16,14. Die Verben „lehren“ und „zurechtweisen“ (V. 16) greifen Formulierungen aus Kol 1,28 auf: die Gemeinde soll in ihrem Inneren das Wirken des Apostels in seinem Sinne fortsetzen. Darüber hinaus ist Kol 3,16 einer der ältesten Belege für den gottesdienstlichen Gebrauch der alttestamentlichen Psalmen und für christliche Hymnendichtung (vgl. Plinius d. J., ep. 10,96). Der diesen Abschnitt beschließende V. 17 bringt zum Ausdruck, daß alles Handeln der Christen durch die neue Wirklichkeit bestimmt sein soll; das Motiv des Dankens hält fest, wie wenig selbstverständlich die Erwählung jedes einzelnen Christen ist, d.h. sein Herausgeholtwerden aus heidnischem Unwesen.

3,18-4,1 Haustafel
Vgl. Eph 5,21-6,9; 1 Pt 2,18-3,7. Die Haustafeln berühren sich formgeschichtlich gesehen mit Pflichtenkatalogen, wie sie u.a. in stoischer Literatur begegnen (Epiktet, Diss. 2,10,1ff.; Diogenes Laertios 7,108), und mit der antiken Literatur der Ökonomik (vgl. Aristoteles, Pol.I, 1253b-1255b; Seneca, ep. moral. 94,1; als frühjüdischen Text vgl. Ps.-Phokyl. 175-227); diese enthält Belehrungen an den Hausherrn über die rechte Haushaltsführung und das Funktionieren des Oikos als der Lebens- und Wirtschaftseinheit. Mit diesen Texten haben die neutestamentlichen Texte gemeinsam die dreifache Relation Hausherr - Ehefrau; Vater - Kinder; Herr - Sklaven sowie die formale Reziprozität der Mahnungen und einzelne ihrer Inhalte.

4,2-6 Ermahnung zum Gebet und zur Fürbitte für den Apostel
Der Inhalt dieser Fürbitte betrifft nicht sein persönliches Schicksal, sondern den missionarischen Erfolg seines Wirkens. Schließlich werden die Christen dazu aufgefordert, gerade für die Kommunikation mit bzw. gegenüber den Nichtchristen gut vorbereitet zu sein.

4,7-18 Grüße und Gnadenwunsch
Nach wie vor gibt es judenchristliche Missionare (Kol 4,10f.), allerdings ist das nur eine kleine Gruppe. Zwischen Philemonbrief und Kolosserbrief sowie teilweise zum 2. Timotheusbrief bestehen auffallende Gemeinsamkeiten hinsichtlich der am Schluß grüßenden Personen (zu Epaphras, Markus, der Vetter des Barnabas, Aristarchus, Demas, Lukas vgl. Phlm 23f. und Kol 4,10-14), teilweise auch der Gegrüßten (zu Archippos vgl Phlm 2; Kol 4,17). Wenn der Kolosserbrief nicht von Paulus stammt, könnte Kol 4,7-18 zwar den Verdacht einer Imitation auf sich ziehen. Doch sprechen einige Differenzen dagegen, vor allem, daß Philemon in Kol 4,7-18 nicht mehr erwähnt wird. Zu Tychikos vgl. 2 Tim 4,12, zu „Markus, dem Vetter des Barnabas“ vgl. Apg 12,12; 15,37.39 (auch dort die freilich nicht verwandtschaftlich begründete Bindung an Barnabas); 2 Tim 4,11, zu Demas und Lukas vgl. 2 Tim 4,10f. Natürlich stehen diese Angaben unter dem Vorbehalt, daß die jeweils genannten Namen sich auf die selbe Person beziehen.
Der in Kol 4,16 erwähnte Brief an die Gemeinde in Laodizea ist verloren. Dieser Umstand veranlaßte die Neuproduktion des apokryphen sog. Laodizenerbriefes.
Kol 4,18a soll die Authentizität des Briefes verbürgen. Die Bitte „Gedenket meiner Fesseln“ ist nicht (oder nicht nur) der Wunsch persönlicher Anteilnahme, sondern der Wunsch nach Bewahrung der apostolischen Botschaft, die für die Adressaten das Wort der Wahrheit ist (Kol 1,24-2,5), und die Bitte um deren Bewährung im eigenem Leben, würdig der Berufung durch den Herrn (vgl. Kol 1,10).

Theologische Grundgedanken des Kolosserbriefes:

Die angeredete Gemeinde ist mit einer Philosophie konfrontiert, die mit dem Anspruch auftritt, esoterische Offenbarungsweisheit zu vermitteln (Kol 2,18.23), und deren Vertreter die Gemeinde disqualifizieren (Kol 2,16.18), d.h. das Recht in Frage stellen, sich als Gemeinschaft von Erlösten verstehen zu können. Sie lehren Nahrungsaskese als die Voraussetzung für die Distanzierung von den Zwängen der irdischen und darum gottfeindlichen Welt, möglicherweise auch die Beschneidung (vgl. Kol 2,11) und schreiben den Engeln die heilsentscheidende Funktion zu, über die Heiligkeit des himmlischen Bereiches zu wachen und den Aufstieg zu diesem Bereich unter ihrer Kontrolle zu haben.
Offenbar ist die Gemeinde durch dieses Heilskonzept verunsichert und beginnt, an ihrem eigenen Heilsstand zu zweifeln und sich eine zusätzliche Absicherung durch die Beachtung der von den Gegnern geforderten Nahrungsaskese zu verschaffen.
In dieser Situation gibt der Verfasser zu verstehen, daß sich eine zu Christus gehörende Gemeinde mit vollem Recht als bereits vollendete Heilsgemeinschaft verstehen kann; für sie ist schon in der Gegenwart präsente Realität, was bei den Gegnern als noch ausstehend gedacht und mit zusätzlichen Kautelen versehen wird. Der Verfasser begründet seinen Standpunkt christologisch und soteriologisch: Christologisch legt er dar, daß zwischen Gott und dem auf die Seite des weltüberlegenen Gottes gehörenden Christus kein Raum für das Wirken anderer Mittlergestalten bleibt und die Engel zur geschöpflichen Welt zu rechnen sind; soteriologisch hält er fest, daß die Christen durch die Taufe Anteil haben an Tod und Auferweckung Christi und damit an seiner Weltüberlegenheit und demnach nicht mehr auf die Seite der gottfernen Welt gehören. Sachgemäß wird dabei die paulinische Dialektik des »schon jetzt« und »noch nicht« umgewandelt in die Dialektik von »oben« und »unten«; das Auferstehungsleben ist verborgen, wird aber offenbar werden, und bestimmt in der Gegenwart des Christen die Gestaltung seiner Lebensführung, die Ethik.