Lektion 8: Paulus - eigener Versuch einer Gesamtdarstellung

Forschungsgeschichtlicher Überblick
Gott
Die Heilige Schrift
Der alte Äon
Der neue Äon
Soteriologie
Paulinische Ekklesiologie
Ethik

 

2. Die Heilige Schrift

Der Begriff „Schrift“ bezeichnet die Urkunde, der Begriff „Gesetz“ bezeichnet die Thora hinsichtlich ihres Inhaltes, des fordernden Willens.

Die Schrift ist vorausgehendes Zeugnis des Heilshandelns Gottes ebenso wie der Weisung an die Gemeinde. Bezeugt wird Gottes Heilshandeln in Jesus (Röm 3,21), die Rechtfertigung aus dem Glauben (Röm 4), sowie der Einbezug der Heiden (Gal 3,8). Paulus bricht, wenn er Heiden missioniert, also keineswegs mit dem Judentum, sondern plädiert für eine Ausweitung des Bundes auf die nichtjüdischen Nationen, dies aber gemäß dessen ursprünglicher und in der Tora selber niedergelegter Intention. Ferner ist die Schrift Zeuge der Rechtfertigung Abrahams aus Glauben, ist aber somit Vorverweis auf das Christusereignis (Gal 3,16) und enthält verschlüsselt in sich selbst die Differenzierung der beiden Äonen.

Mehrfach wird die Heilige Schrift unmittelbar für soteriologische (Röm 4,23f.) und ekklesiologische Sachverhalte (1 Kor 9,10; 10,11; Röm 15,4) in Anspruch genommen. Ähnlich hat Qumran die Schrift auf die eigene Gruppe bezogen, die sich ebenfalls in der Endzeit wußte.

Der Begriff nomos (Gesetz) bezeichnet die Thora hinsichtlich ihres Inhaltes, des fordernden Willens. Der Begriff fehlt in Thess sowie in 2 Kor völlig, regelt in 1 Kor 9,8f. zusammen mit einem Herrenwort 1 Kor 9,14 das apostolische Unterhaltsrecht und weist in 1 Kor 14,21f. die Glossolalie als Zeichen für die Ungläubigen, die Prophetie als Zeichen für die Gläubigen aus, ist also auch hier theologisch nicht zentral. Immerhin wird durch diese Belege aus 1 Kor klar, daß Paulus hier keineswegs abwertend vom nomos spricht. Selbst die paulinische Rede vom nomos im Galaterbrief ist differenziert zu betrachten. Einerseits behauptet Paulus in Gal 3,19, der nomos stamme aus der Hand von Engeln und sei darum geringwertiger als die von Gott gegebenen Verheißungen. Andererseits verwahrt sich Paulus mit einem „das sei ferne!“ gegen die Vorstellung, die Thora sei seiner Lehre nach gegen die Verheißungen Gottes gerichtet. Auch im Galaterbrief sind es berechtigte Rechtsforderungen der Thora an uns, die durch Jesu stellvertretenden Sühnetod abgegolten werden (Gal 3,13). Der Fluch über die Menschen rührt daher, daß niemand die Thora getan hat. Auch deshalb erwächst aus den Werken der Thora keine Rechtfertigung. Die Thora deckt die Sünde des Menschen auf; sie provoziert sie nicht direkt, wohl aber indirekt, indem sie, so Paulus in Röm 7, mein gegen sie und damit gegen Gott gerichtetes Begehren anstachelt.

Materialiter ist die Heilige Schrift Israels für Paulus von Anfang an unbestritten von Relevanz. Bereits für 1 Thess 4 zeigt das der Begriff der „Heiligung“, zu der die Heidenchristen berufen sind, vgl. Lev 19,2. Die Einzelweisungen paulinischer Ethik unterscheiden sich gerade in dem empfindlichen Bereich des 6. Gebotes nicht von dem, was wir als Thora kennen. Daß Paulus vor allem in 1 Thess und in 1 Kor und auch in den ethischen Partien des Röm, gegenüber heidenchristlichen Adressaten da nicht auf die Thora zurückgreift, wo er es tun könnte, hat Parallelen in frühjüdischer Literatur. Doch betont Paulus in apologetischer Situation, daß die Nächstenliebe die Erfüllung der Thora sei (Gal 5,14).