Lektion 12: Die Offenbarung des Johannes

Vorbemerkungen
Verfasserfrage
Die Rezeption der Johannesoffenbarung
Die Adressaten
Situation
Datierung und Lokalisierung
Gattung
Theologische Voraussetzungen
Literarische Gemeinsamkeiten
Theologische Gemeinsamkeiten
Grobgliederung
Feingliederung
Exkurs: Chiliasmus
Theologische Grundgedanken

Theologische Grundgedanken

Die Johannesoffenbarung reflektiert die gegenwärtige äußere wie innere Gefährdung der Christinnen und Christen im Horizont der christologisch modifizierten apokalyptischen Erwartung, daß sich Gottes Herrschaft, die seit der Erhöhung Christi im Himmel schon Wirklichkeit ist und im unaufhörlichen Lobpreis besungen wird, auch auf Erden in allernächster Zeit sichtbar durchsetzen wird. Leitendes Anliegen der Johannesoffenbarung ist es daher, die Christen zur entschiedenen, die Martyriumsbereitschaft einschließenden Abgrenzung gegenüber allen Kompromissen zwischen christlichem Glauben und heidnischer Religiosität zu mahnen und den sich entsprechend bewährenden Christen die Hoffnung auf die Teilhabe am himmlischen Erbe zu vermitteln und zu bestärken.

Im Einzelnen erschließt sich das theologische Profil der Johannesoffenbarung aus ihrem Geschichtsbild wie aus ihrer Charakterisierung seiner Hauptakteure.

Leitend für das Geschichtsbild ist die Vorstellung, daß nach einer endzeitlichen Steigerung des Gegensatzes zwischen Gott und den widergöttlichen Mächten Gott selbst seine Herrschaft unwiderruflich durchsetzen wird.

1. Der genannte Gegensatz ist von Anfang an gegeben: Der Drache ist die „alte Schlange“ (so 12,9 mit Anspielung an Gen 3). Menschheitsgeschichte vor Christus wird einseitig als Unheilsgeschichte beschrieben. Positive Ausnahmen interessieren nicht.

2. Christus hat Menschen aus allen Völkern für Gott losgekauft und sie zu einem Königtum und zu Priestern gemacht (5,9f.) und ist deshalb von Gott zum endzeitlichen Herrscher eingesetzt, der das „Buch mit den sieben Siegeln“, das Dokument des endgültigen Willens Gottes hinsichtlich der Geschichte (vgl. 5,10 mit 22,5), schon erhalten und geöffnet hat (5,6f.). Seine Herrschaft bekennt die Gemeinde im Gottesdienst (am „Tag des Herrn“, 1,10) im Lobpreis, der in den himmlischen Lobpreis Gottes und des Lammes einstimmt (7,10; 15,3f.), und verkündet sie in der Welt. Die Erhöhung Christi verschärft freilich den vorhin genannten Gegensatz: Sie bedeutet die prinzipielle Entmachtung Satans und seinen Sturz aus dem Himmel auf die Erde. Dort verwirklicht er nochmals (und zum letzten Mal) seine Revolte gegen Gott (12,1-18), indem er dem Tier aus dem Abgrund die Macht übergibt (13,2) und Menschen zur Anbetung des Tieres verführt (13,4.14.18). Damit ist der Realitätsbezug dieser mythologischen Vorstellung genannt: Ihr innergeschichtlicher Widerpart ist die Erfahrung, daß die Christusverkündigung der Gemeinde nicht nur auf Ablehnung stößt, sondern geradezu eine Gegenverkündigung auf den Plan ruft, die für den Seher in dem religiös verbrämten Anspruch des Imperium Romanum und vor allem in der Forderung des Kaiserkultes konkrete Gestalt gewinnt. Kann das Imperium Romanum seine Macht und seine Pracht sichtbar entfalten, so hat die Herrschaft Christi nicht in gleicher Weise einen innergeschichtlichen Widerpart, der dem einzelnen (!, vgl. zu Apk 12,6.15f.; 13,9f.) Christen in seiner eigenen Lebenserfahrung unmittelbar zugänglich werden könnte. Das macht die äußere Not und die innere Gefährdung der Christen aus. Das prophetische Wort gibt in dieser Situation Zuspruch und Mahnung. Das Bekenntnis zur Herrschaft Gottes und zur Herrschaft Christi hat seine Form deshalb auch als Bitte um das Kommen des „Herrn“ Jesu (22,20), aber auch als Zeugnis für Jesus, das bis zum Tod führen kann (2,13).

3. Die endgültige Selbstdurchsetzung Gottes in seinem Gericht über die widergöttlichen Mächte (19,11-20,15) wird den Christen bestätigen, daß ihr Zeugnis für Christus, d.h. ihre Verweigerung den religiösen Ansprüchen des Imperium Romanum gegenüber (3,8; 15,2; 20,4), nicht umsonst gewesen sein wird; im Gegenteil: sie werden der Verheißung der paradiesischen Gottesstadt teilhaftig werden und zusammen mit Gott und mit Christus herrschen (21,1-22,5). Gottes endgültige Selbstdurchsetzung auf Erden ist dem Seher ebenso wie der bereits erfolgte definitive Herrschaftsantritt im Himmel nur kraft göttlicher Offenbarung zugänglich; doch ist diese Offenbarung für ihn unbezweifelbare Wirklichkeit, und aus ihr leitet er seinen eigenen Autoritätsanspruch ab.

Die Charakterisierung der Hauptakteure in diesem Geschichtsbild erfolgt unter Zuhilfenahme narrativer Kritik, die nach dem intendierten Bild der Figuren der erzählten Welt für den impliziten Leser fragt und den Sinn der Zuordnung dieser Aussagen zu den verschiedenen möglichen Subjekten (Gott; Christus; Mitglieder des himmlischen Hofstaates, die vollendeten Christen, der Seher) zu erheben sucht.

Zur Erfassung der Gott selbst betreffenden Aussagen ist von den beiden Gottesreden Apk 1,8 und Apk 21,5-8 auszugehen. Die erste Selbstaussage Gottes prädiziert ihn als Schöpfer und Vollender (1,8), die zweite thematisiert zusätzlich die Äonenwende, die Gewährung von Heil als unzerstörbare Gottesgemeinschaft und die Warnung vor Fehlverhalten (21,5-8).

Aussagen himmlischer Wesen nehmen in 4,11 die Selbstaussage von 1,8 als Aussage über die Schöpferwirksamkeit Gottes auf (14,7) und formulieren das Lob des Allherrschers (4,8), thematisieren aber zusätzlich den nunmehr erfolgten endgültigen und sichtbar werdenden Herrschaftsantritt Gottes im Zorn über die Völker und im Lohn für die bewährten Christen (11,17-19), im Gericht an der großen Hure, die die Erde verdorben und das Blut der Knechte Gottes verschlungen hat (19,1f.3). Daß Gott als Richter zugunsten der Märtyrer eingreifen wird, bezeugen die Aussagen himmlischer Wesen in 12,10; 16,5-7; 18,20.24; 19,2b. Doch warum werden die Bezeichnung Gottes als Pantokrator sowie das Thema des endgültigen Herrschaftsantritts nicht in eine Selbstaussage Gottes gebracht, sondern i.w. auf die Hymnen des himmlischen Hofstaates konzentriert? Das verweist auf den Gottesdienst als Ort der Doxologie, die sich auf den Grund der christlichen Hoffnung besinnt, und hat m.E. zugleich einen paränetischen Nebensinn: Die genannten Huldigungen Gottes stehen gleichnishaft für den von den Christen geforderten Akt des Bekenntnisses.

Die erste Selbstaussage Jesu Christi (1,17-20) prädiziert ihn als ersten (vgl. 2,14) und letzten und Lebendigen, als Gekreuzigten und Auferstandenen (vgl. 2,8), als Herrn (vgl. 2,1; 3,1) und Richter (vgl. 2,5.12.18; 3,7) der Gemeinden. Die von ihm selbst gegebenen Ansagen seiner Wiederkunft stehen im Zusammenhang der Mahnung, an dem, was man positiv erreicht hat, festzuhalten (2,25; 22,7), bzw. in dem der Gerichtswarnung (3,20), wie überhaupt der in 1,7 angesprochene eschatologische Horizont mit seinen Implikationen der Mahnung und des Trostes das ganze Buch durchzieht und prägt. Jesus Christus ist derjenige, der das Gericht über die widergöttliche Mächte endgültig vollzieht (19,11-16), ist aber vor allem auch Richter über die Gemeinden: Er kann über deren Heil und Unheil (2,5; 3,16) entscheiden und tritt gegen Sünder in den Gemeinden selbst auf den Plan (2,16; 2,22f.). Das Bildwort vom Dieb ist Mahnung an die Gemeinde (3,3) wie an einzelne Christen (16,15). In sechs der sieben Überwindersprüche ist Christus selbst derjenige, der die Zuteilung von Heilsgaben verspricht (2,7.17.26; 3,5.12.21). Seine Liebe zur Gemeinde (3,9) kann die Bewahrung vor der Stunde der Versuchung einschließen (3,10). Als treuer Zeuge (3,14) und Überwinder (3,21; 5,5) ist er zugleich Urbild und Vorbild auch des eigenen Christen (vgl. 3,14 mit 2,13; vgl. 3,21; 5,5 mit den Überwindersprüchen).

Christi Selbstprädikation als erster und letzter (1,17; 22,13) erinnert an die Gottesaussage (1,8), ebenso sind die Aussagen seiner Gewährung von Heil (2,7 etc.) der entsprechenden Selbstaussage Gottes (21,6) zu vergleichen. Diese Zuordnung Christi zu Gott (5,13; 7,10) und die Annäherungen in den Prädikationen (vgl. 5,12 mit 4,11) begegnen auch in Fremdaussagen über ihn durch himmlische Wesen oder durch die vollendeten Christen.

Nur in Aussagen seitens des himmlischen Hofstaates begegnet der Verweis auf Christi Heilswerk (5,9f.); wiederum ist das himmlische preisende Bekenntnis Ermöglichungsgrund, zugleich jedoch Urbild und Vorbild geforderten christlichen Verhaltens. Der Seher nimmt Sätze über Jesus als Gekreuzigten und Auferstandene (1,5) sowie über seine Richterfunktion auf (7,13, vgl. Apk 19,11-16; vgl. aber schon die Visionsschilderung 1,13-16), ebenso über seine gottähnliche Stellung (1,17). Ist das vorliegende „Buch der Weissagung“ eigentlich „Offenbarung Jesu Christi“ (1,1) soll dies im Verbund mit den eben genannten auktorialen Sätzen den Anspruch der Verbindlichkeit der Johannesoffenbarung betonen.

Der himmlische Hofstaat umfasst neben den vier Lebewesen und dem Thron verschiedene Engel und Engelgruppen, deren Verhältnis zueinander apokalyptischer Tradition gemäß nicht immer ausgeglichen wird. Den Engeln verdankt der Seher insgesamt das, was er zu schreiben hat (1,1), doch auch innerhalb des visionären Geschehens kommunizieren einzelne Angehörige des himmlischen Hofstaates unmittelbar mit ihm (5,4; 10,9; 14,13; 19,9) und fungieren als Deuteengel (7,14; 17,7) oder als Führer (17,1; 21,9). Durch die Befehle des Aufschreibens (14,13; 19,9) werden wichtige Aussagen als unmittelbar für die Gegenwart der Gemeinde von Bedeutung bezeichnet; ergehen sie seitens des himmlischen Hofstaates, wird das Gewicht dieser Aussagen wiederum unterstrichen. Einzelne Mitglieder des himmlischen Hofstaates setzen die Plagen in Gang bzw. kommentieren das Geschehen. Vor allem aber hat der himmlische Hofstaat die Funktion des unaufhörlichen Gotteslobes; mit seiner Proskynese vor dem Ewigen (4,10; 5,14; 7,11; 11,16; 19,6) vollzieht er bereits jetzt das, was die Völker nach der Verheißung erst in der Endzeit vollziehen werden (15,4), vollzieht er das, was die Nichtchristen fälschlich dem Drachen (13,4) und dem Tier zukommen lassen (13,8.12; 14,9.11) und was nicht einmal den Engeln selbst zusteht (19,10; 22,9).

Die widergöttlichen Mächte sind widergöttlich nicht aufgrund bloßer Ignoranz gegenüber dem Wesen christlicher Existenz, sondern aufgrund willentlicher Selbstverweigerung gegenüber dem Anspruch Gottes. Die Selbstverabsolutierungstendenzen des Imperium Romanum und speziell den in Kleinasien erstarkenden Kaiserkult beschreibt der Seher in Apk 13; 14 als Parodie auf die Selbstbezeugung der Herrschaft Gottes und interpretiert ihn streng theologisch nach den Richtlinien des exklusiven Monotheismus als des biblischen Grundgebotes. Das zweite Tier verführt die Menschen durch Zeichen und Wunder (13,13f.; 20,8.10; vgl. Dtn 13,2-6). Als Fehlverhalten der Nichtchristen gilt die Verehrung des Drachens (13,4) und des Tieres (13,8.12.14), die Bereitschaft, sich durch ein „Zeichen an der Hand“ als Eigentum des Tieres deklarieren zu lassen und seine Identität aus dieser Zugehörigkeit zu beziehen (13,16f.), sowie die mangelnde Bußbereitschaft angesichts der christlichen Verkündigung (9,20f.; 16,9.11.21).

Die Christinnen und Christen sind bezeichnet als die Heiligen (13,10; 19,8) und als Knechte Gottes (22,3). Sie sind als Königtum und Priesterschaft von Christus bereitet und haben damit unmittelbaren Zugang zu Gott; so sind sie im Sinne des Verfassers als religiöse Elite definiert. Gemeinde ist Gemeinde aus allen Völkern und Nationen (5,9); das Verhältnis zu dem nicht an Jesus glaubenden Israel, das sich seinerseits ja auch nicht am Kaiserkult beteiligt hat, steht nicht im Blickfeld. Der Prozeß der Selbstdurchsetzung der Herrschaft Gottes fängt in der durch die Erlösungstat Christi begründeten Gewinnung von Christen an; daß zuvor schon Israeliten ihrerseits die Offenbarung des Willens Gottes empfangen und die Botschaft der Propheten selbstkritisch aufgenommen haben (vgl. z.B. Neh 9; Dan 9), tritt nicht in das Blickfeld des Verfassers.

Auf die innere Gefährdung der Christen durch die verlangte Teilnahme am Kult der Staatsgötter (und am Kaiserkult) verweist Apk 21,8: Den Lasterkatalog eröffnet die Reihe der verschiedenen Abstufungen der Sünde gegen das biblische Grundgebot der Unterscheidung zwischen Gott und den Gegenmächten. Doch auch die Beschreibung christlicher Verhaltensweisen ist auf die genannte Situation hin spezifiziert: Als christliche Tugenden gelten vor allem „Bewahren“, „Festhalten“ und „Überwinden“. Der Christ soll die Werke Christi bewahren, (2,26), das Wort der Geduld (3,10), die Gebote Gottes und den Glauben an Jesus (12,17; 14,12), schließlich die „Worte dieser Weissagung“ (1,3; 22,7.9) und soll Werke tun (2,5), z.B. Gerechtigkeit (22,11); der Christ soll am Zeugnis für Jesus festhalten (6,9; 12,17) und gilt damit als treu wie Antipas (2,13) und Jesus selbst (3,14); der Christ soll überwinden, sich der Anbetung des Tieres und seines Ebenbildes verweigern (15,2, vgl. 20,4). Jesu Wort zu bewahren heißt seinen Namen nicht verleugnen (3,8); das sichert den Zusammenhang der genannten Aspekte. Ergehen fast alle diese Bestimmungen in der „erzählten“ Welt als Worte Christi, wird das autoritative Gewicht dieser Weisungen deutlich. Zumindest als Idealvorstellung des Verfassers gilt auch die Jungfräulichkeit (14,4), wenngleich er sie nicht für alle Leser verpflichtend macht.

Ist Christus der Richter auch über die Gemeinden (s.o.), ist damit gesagt, daß gerade die Christen dem Jüngsten Gericht keineswegs entnommen sind, sondern nach ihren Werken, nach der Bewahrung des Wortes Jesu und nach ihrer die Martyriumsbereitschaft einschließenden Treue in der Konfliktsituation gerichtet werden (vgl. 21,8). Auch die Seligpreisungen sind vornehmlich paränetisch ausgerichtet (14,13; 16,15; 19,9; 20,6; 22,14 sowie die auf die Bewahrung der Worte dieses Buches zielenden Stellen 1,3; 22,7). Dem Überwinder wird freilich unzerstörbare Gottesgemeinschaft (3,12) in neuer Identität (2,17) verheißen, Verschonung vor dem zweiten Tod (2,11; 3,5), himmlisches Manna (2,17); Essen vom Baum des Lebens (22,7), die Teilhabe an der Herrschaft Gottes über die Erde (2,26; 3,21).